Nahezu ein Jahrhundert lang haben Architekt*innen und Städtebauer*innen gezürnt, sich empört und in Rage geschrieben gegen das Berliner Mietshaus. Von 1880 bis 1975 galt es als Inbegriff miserabler Wohnbedingungen, lichtloser Höfe, Profitgier und verfehlter Städtebaupolitik.
Mit den Instandbesetzungen in Berlin-Kreuzberg und pilothaften Sanierungsprojekten am Klausenerplatz in Charlottenburg erfuhr das Berliner Mietshaus dann um 1980 eine Art Rehabilitation. Denn man stellte fest, dass die „Kreuzberger Mischung“, das dichte Nebeneinander von Wohnen, Arbeiten und anderen Nutzungen durchaus Vorzüge birgt, sich die Häuser unkompliziert modernisieren lassen und ihre Wohnungen zudem eine enorme Nutzungsflexibilität aufweisen – durch mehr als ein Jahrhundert und ungeachtet mannigfaltiger gesellschaftlicher Umbrüche.
Hier setzt das kürzlich erschienene, schmale Buch Das Berliner Zimmer. Geschichte, Typologie und Nutzungsaneignung des Architekten und Bauassessors Jan Herres an. Dem Autor geht es um jenen länglichen, oft erstaunlich großen Raum, der in Berliner Vorderhauswohnungen das um 90 Grad verschwenkte räumliche Scharnier zum Hinterhaus bildet. Aufgrund seiner Lage ist das Berliner Zimmer meist ein spärlich belichtetes, früher schwer beheizbares Durchgangszimmer. Mehr als diese Schwächen erzürnte die Mietshauskritiker der Moderne jedoch, dass dieser Raum nie eine klar bestimmte Funktion hatte.
Diesen Gedanken greift Herres auf, indem er das Berliner Zimmer im Hier und Jetzt von seiner Nutzungspraxis her betrachtet. Er hat zwei Dutzend Berliner Familien und Paare zuhause besucht und sich „ihr“ Berliner Zimmer zeigen lassen. Die wechselnden Adaptionen des Raumes dokumentierte der Autor fotografisch und befragte die Bewohner*innen zu ihren Nutzungserfahrungen. Dabei kommt er zu ganz anderen Schlüssen als die Mietshauskritiker*innen von einst: Es sei gerade die fehlende Nutzungsfestlegung, die dem Berliner Zimmer ein hohes Potenzial situativer Aneignung und „geplanter Unbestimmtheit“ verleihe, es zum Möglichkeitsraum innerhalb der Wohnung mache.
Für Herres hilft das Berliner Zimmer seinen Bewohner*innen, auf wechselnde Lebenskonstellationen zu reagieren. Er sieht es als eine Art räumlicher „Joker“ – ähnlich den variablen Schaltzimmern, die aktuell als Innovation experimenteller Wohnkonzepte gepriesen werden. Und er hebt auf das soziale Moment des Berliner Zimmers ab. Hier ist der Gemeinschaftsraum der WG, der Mittelpunkt von Partys und Geselligkeiten. Das war bereits in der Epoche förmlicher bürgerlicher Konvention um 1900 so.
Herres verknüpft seine wohnsoziologischen Überlegungen zum „polyvalenten Zentrum“ des Wohnens durchaus kurzweilig mit den Schriften von Strukturalisten wie Arnulf Lüchinger und Herman Hertzberger. Zugleich macht er deutlich, dass das Berliner Zimmer in abgewandelter Form auch im Berliner Wohnungsbau der Gegenwart seinen Platz hat. Den Rahmen dieser Studie bilden ein baugeschichtlicher Abriss des Berliner Zimmers sowie einer zeichnerischen Dokumentation seiner Raumtypologie, mit insgesamt 31 vorgefundenen Grundrissvarianten. Ein fundiertes und kurzweiliges Buch darüber, wie zeitlos robust die architektonischen Verlegenheitslösungen von vorgestern sein können.
Text: Frank Peter Jäger
Das Berliner Zimmer. Geschichte, Typologie und Nutzungsaneignung
Jan Herres
128 Seiten
Jovis Verlag, Berlin 2021
ISBN 978-3-86859-707-3
29 Euro
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Fred | 05.05.2022 20:38 UhrBerliner Zimmer
Es ist wirklich keine große Entdeckung, dass ein schlecht nutzbarer Raum nicht so genutzt werden kann wie andere Räume. Das Problem ist doch, dass er bei der Errichtung und der Anmietung genauso viel kostet, wie ein Raum, der kein Durchgangszimmer ist, oder ein so großes Fenster hat, dass er als Aufenthaltsraum durchgeht. Das nächste Buch gibt es dann über Keller: Schlecht nutzbar aber großes Potential für Begriffe wie "Aneignung", "kritische Adaption" und "urbanes Potential".