Wenn über Antworten auf die Wohnungskrise diskutiert wird, verweisen Fachleute nicht nur nach Wien, wo die Kommune besonders viele Wohnungen unterhält, sondern auch nach Zürich. Denn ausgerechnet in der teuren Schweizer Finanzmetropole sind rund 77.000 Wohnungen im Eigentum von Genossenschaften und somit den Bedingungen der renditegetriebenen Immobilienwirtschaft entzogen. Gemeinnutz heißt hier ein Zauberwort – und das seit über einhundert Jahren.
Bereits 1916 gründeten Arbeiter die erste Baugenossenschaft, heute vermieten im Kanton Zürich über einhundert Baugenossenschaften nicht gewinnorientiert Wohn- und Gewerberaum an ihre Mitglieder. Im Jahr 2050 soll gar ein Drittel aller Wohnungen in Zürich gemeinnützig sein, so zumindest haben es 75 Prozent aller Stimmberechtigten der Stadt 2011 beschlossen.
Warum das möglich ist, haben Anne Kockelkorn, Susanne Schindler und Rebekka Hirschberg, die Herausgeberinnen von Cooperative Conditions: A Primer on Arcitecture, Finance and Regulation in Zurich, auf über 300 Seiten aufgeschrieben und dabei acht spezifische Bedingungen der Cooperative Conditions identifiziert. Sie erklären, wie gemeinnütziger Wohnraum mit der direkten Demokratie in der Schweiz und der Bodenpolitik zusammenhängt, welche Rolle die Finanzmetropole Zürich und ihre speziellen Kreditkonditionen dabei spielen und warum so viele qualitätvolle städtebauliche und architektonische Räume und auch Experimente wie das Hallenwohnen möglich wurden.
Wer eine der drängendsten gesellschaftlichen Fragen der Zeit in all ihren Dimensionen ergründen will, muss viele Fachbereiche und vor allem die Praxis konsultieren. So liegen dem Buch nicht nur knapp dreißig Interviews mit Mieter*innen, Genossenschaftsgründer*innen, Aktivist*innen, Vertreter*innen von Stadt und Kanton, Forschenden, Fachleuten der Planung sowie die Recherche von Studierenden der ETH Zürich zugrunde. Auch zwölf kleinbedruckte Seiten Literaturangaben unterstreichen die Gründlichkeit der Untersuchung. Nicht zuletzt machen die Autorinnen die Zusammenhänge auch für jene ohne Vorwissen verständlich, indem sie etwa ein Wettbewerbsverfahren oder das Prinzip Volksinitiative ausführlich erklären.
Der Text ist durch Diagramme und Bilder aus zwanzig genossenschaftlich organisierten Wohnprojekten in Zürich und Umgebung aufgelockert, die den Ausgangspunkt für das Buch bildeten. Darunter finden sich alte wie etwa Neubühl, Friesenberg oder der Lettenhof, aber auch jüngere, weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannte Projekte wie die Kalbreite, Zwicky Süd oder das Hunziker Areal.
Cooperative Conditions ist ein Buch, auf das alle, die nach gründlichen Antworten auf die Wohnungsfrage suchen, gewartet haben dürften. Denn mit Blick auf die Situation in Deutschland verdeutlicht es einmal mehr, dass die Fehler der Vergangenheit mit Bau-Turbo-Pakt, Bündnisaufrufen oder Fördermilliarden nicht auszuräumen sind. Bezahlbares Wohnen muss vor allem dauerhaft als gemeinnützig verankert sein. Mit der jüngst wiedereingeführten Wohngemeinnützigkeit ist ein erster Schritt getan.
Text: Friederike Meyer
Cooperative Conditions: A Primer on Architecture, Finance and Regulation in Zurich
Anne Kockelkorn, Susanne Schindler, Rebekka Hirschberg
Gestaltung: Dorothée Billard, Clara Neumann
312 Seiten
Englisch
gta Verlag, Zürich 2024
ISBN 978-3-85676-419-7
39 CHF
Das Buch ist auch per open access erhältlich.
Zum Thema:
Mehr über die Wohnexperimente in der Zürcher Agglomeration erfahren Sie in der BauNetz WOCHE #494.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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... | 08.01.2025 16:23 Uhr@auch ein architekt
im gegensatz zu den lippenbekenntnissen des bundesbauministeriums sind die in zürich anvisierten ziele - das zeigen die bereits exisiterenden verhältnisse auf dem dortigen wohnungsmarkt und die fertigstellungszahlen der baugenossenschaften - durchaus realitätsnah. also eben kein lippenbekenntnis. aber genau darum dreht sich ja gerade das buch.
es sind im übrigen - auch darum dreht sich das buch - eher politische, gesetzliche, fiskalische, raumplanerische etc. rahmenbedingungen, die in der schweiz anders und durchaus auch zugunsten gemeinwirtschaftlicher bauprojekte organisiert sind - nicht so sehr die genossenschaften selbst. die funktionieren entlang derselben bzw. ähnlicher prinzipien wie in deutschland auch. genau deshalb lohnt sich ja der vergleich: um analysieren zu können, was in der brd anders gemacht werden müsste, um auch hier im wohnungsneubau mehr demokratisch selbstverwaltete und dauerhaft zu kostenmieten bewirtschaftete wohnformen zu ermöglichen.
deshalb: ein buch von unschätzbarem wert für alle menschen, die in der genossenschaftsbewegung aktiv sind!