Ende der 1990er Jahre wurde der kanadische Zeichner Guy Delisle für drei Monate in die chinesische Wirtschaftsmetropole Shenzhen geschickt. Er sollte dort eine Trickfilmproduktion leiten, die von dem französischen Filmstudio nach China verlagert wurde. Shenzhen gehört zu jenen Neustädten in China, die in den 1980er und 1990er Jahren stark gewachsen sind und weitgehend neu bebaut wurden – Shenzhen liegt am Pearl River, genau auf der anderen Flussseite von Hongkong, wuchs zwischen 1979 und 2000 von 30.000 auf über zehn Millionen Einwohner.
Mit dem Bleistift hat Delisle alltägliche Erlebnisse und seine andauernde Verwunderung während seines Aufenthalts in der chinesischen Neustadt festgehalten. Daraus ist dieser Comic entstanden, den die Süddeutsche Zeitung nun in ihrer Reihe „Graphic Novels“ neu aufgelegt hat.
„Shenzhen“ ist eine wunderbar genaue und vor allem neugierige Beobachtung einer völlig fremden Welt, die Delisle sich immer nur indirekt durch seine Übersetzer erschließen kann. Ebenso sensibel wie humorvoll berichtet er über Einsamkeit, Langeweile, Desorientierung und Missverständnisse – und über lustige oder einfach skurrile Geschichten, wie ein Besuch beim Zahnarzt oder der Versuch herauszufinden, was im Essen ist. Dabei tauchen am Rande Themen auf, wie etwa die globalisierten Produktionsbedingungen von Trickfilmen: Wenn er sich mit den Zeichnern kaum verständigen kann oder beobachtet, wie selbstverständlich man mit dem Kopf auf dem Zeichenbrett nickert.
Eher im Hintergrund, aber umso intensiver, tauchen die Folgen des explosionsartigen Wachstums der Städte auf. Überall sind neue Hochhäuser und Baustellen zu sehen. In einer Szene fällt ihm irgendwo in der Stadt ein „merkwürdiges Gebäude“ auf, ein „Betonklotz, 15 Etagen hoch, ohne ein einziges Fenster“. Als er es fotografieren möchte, kann er es aber nicht mehr wiederfinden. Insgesamt beschreibt Delisle die Erfahrung einer wenn auch interessierten, so doch in den drei Monaten nicht aufzulösenden Fremdheit. Das Gefühl einer amüsierten Verlorenheit. Ein Buch, das man allen Architekten, die zum Arbeiten nach China gehen oder dort gelebt haben, wärmstens empfehlen kann. Delisles Zeichenstil ist dabei durchaus gewöhnungsbedürftig, aber letztlich zum sanften, nie sensationsgierigen Tonfall seiner Beobachtungen sehr passend. Und wer daran Gefallen findet, dem seien die anderen beiden, neueren Comic-Reportagen von Delisle empfohlen: „Pjöngjang“ (2007) und „Aufzeichnungen aus Birma“ (2009).
Guy Delisle: „Shenzhen“
160 Seiten, schwarz-weiß, gebundene Ausgabe
SZ Edition Graphic Novels
14,90 Euro
www.sz-shop.sueddeutsche.de