Kann man in der Klimakrise ein freistehendes Einfamilienhaus in Sichtbeton, das lediglich mit einer Innendämmung versehen wurde, überhaupt noch feiern?
Der im letzten Jahr verstorbene Architekt Luigi Snozzi war sein Leben lang ein leidenschaftlicher Städtebauer im großen Maßstab. Doch bekannt geworden ist er paradoxerweise mit Villen in seiner Tessiner Heimat. Für ihn war das kein Widerspruch, denn: „Baust Du einen Weg, ein Haus, ein Quartier, dann denke an die Stadt!“
Dasjenige seiner Häuser – eigentlich ein Ferienhaus – das der Architekt laut Brief an die Bauherrin „am liebsten hat“, bildet nun den programmatischen ersten Band einer neuen Buchreihe „swissmonographies“. Die Casa Kalman in Brione oberhalb des Lago Maggiore, geplant und gebaut 1973–76, wurde schnell zu einer international wahrgenommenen Ikone der „Tessiner Schule“ und ihres intellektuellen Kopfes Snozzi. Sein Büro hat für die jahrelangen Planungs- und Bauleitungsleistungen übrigens 29.000 Schweizer Franken in Rechnung stellen können – immerhin.
Das schön ausgestattete, kleine Buch Casa Kalman – Luigi Snozzi ist eine vielschichtige Hommage in Wort und Bild an ein Haus, das man in eine Reihe stellen muss mit der Villa Savoye von Le Corbusier, der Villa Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe oder den Meisterhäusern von Walter Gropius (und Carl Fieger!). Häuser, die weit mehr sind als Programmerfüllungen, sondern selbstbewusste Setzungen, die Architektur als autonome Kunst aufführen. Snozzi hat an einem eigentlich unbebaubaren Steilhang ein kompromissloses Statement exekutiert, das glücklicherweise von der Bauherrschaft unterstützt und geschätzt wurde.
Zum künstlerischen Eigensinn des Architekten passt, dass er für die Publikation des Hauses einen ungebauten Idealzustand ausgewählt hat, der sich heute im Netz perpetuiert: Ein orthogonal zum Gebäude angelegter Steg zum Autostellplatz (der nicht zum Grundstück der Bauherrin gehörte) wurde nie realisiert, findet sich aber in den ikonischen Schwarzplänen. Der eigentliche Clou des in corbusianischer Sichtbeton-Moderne gehaltenen Baus ist aber die Terrasse in Form eines Auslegers, der einerseits den Höhenlinien folgt und anderseits eine gerade Kante ausbildet: Das erzeugt eine ungeheure räumliche Spannung, die in eine eigentlich nutzlosen Betonpergola mündet, um einen „gerahmten“ Blick auf die grandiose Seen- und Berglandschaft vorzugeben.
Autor Harald R. Stühlinger hat die Tochter der Bauherrin zufällig beim Wassersport kennengelernt und sich so dem Haus angenähert. Sein Buch schwenkt zwischen Beschreibungen und Interviewpassagen hin und her, worauf man sich einlassen muss. Eine stringente Gebäudemonographie ist das nicht. Auch die Bebilderung ist trotz der Bildunterschriften nicht selbsterklärend; historische Aufnahmen mischen sich mit aktuellen. Die ausfaltbaren Pläne bleiben mit ihren unterschiedlichen Planständen ebenfalls unerläutert.
Aber das Schöne an der Casa Kalman ist, dass die Eigentümerin weiß, was sie daran hat. Und so sind dort Kohorten von Architekturstudierenden und -interessierten in den letzten fünf Jahrzehnten als angemeldete oder spontane Gäste willkommen geheißen worden. Snozzi erzählte 2011, dass er sogar Modelle des Hauses Kalman an manchen Schulen angetroffen habe. Autor Stühlinger schreibt jedenfalls: „In einer Zeit, die überschattet ist von einer Klimakrise, liest man die Casa Kalman als ein Werk einer vergangenen Epoche. Doch das tut der Faszination, die dieses Werk Snozzis ausstrahlt, keinen Abbruch. Im Gegenteil: So manche Lehre, die daraus zu ziehen ist, kann für ein Denken und Bauen der Zukunft von entscheidender Wichtigkeit sein.“
Text: Benedikt Hotze
Casa Kalman – Luigi Snozzi
Harald R. Stühlinger
Deutsch/Englisch
136 Seiten
Merian Verlag, Basel 2022
ISBN 978-3-85616-978-7
38 Euro
Zum Thema:
Unser Rezensent Benedikt Hotze verantwortete 2010 Baunetzwoche#198 zu Luigi Snozzi – inklusive Link zum Audiomitschnitt eines damals von Hotze geführten Interviews mit Snozzi.