Alkohol, Zigarren, Maulfaulheit und ein seltsamer Nachname, zu dem der Architekt sicherheitshalber noch einen zweiten hinzugesellte - auf einen solchen Nenner dürfte man Ludwig Mies van der Rohe kaum mehr bringen, ohne Ärger zu bekommen. Das Bild von Mies anzutasten ist nicht einmal seiner Tochter Georgia gelungen, die in ihrer Autobiographie "La donna e mobile" (Aufbau-Verlag, Berlin, 2001) ihrem Vater eine gewisse Affinität zum Kinderschänden unterzujubeln suchte (Inzest eingeschlossen). Statt dessen ist - oder besser scheint - Mies heute wesentlich mehr als die Summe einiger bis zum Überdruss zitierter und verballhornter Aphorismen, mehr als seine Bauten und ihre Kopien überall in der Welt. Mies ist ein Monument - wieder, und vielleicht gerade, weil er es lange nicht mehr gewesen ist. Dass daher, neben allerlei kleineren Bänden, vor allem zwei tonnenschwere Bücher auf den Markt kamen, um dieses Bild ein für alle male im wahrsten Sinne des Wortes festzuschreiben, mag kaum verwundern: die Kataloge zur Doppelretrospektive, die von New York (Whitney und Museum of Modern Art) aus auf verschiedenen Wegen um den Globus tourt.
Beide Publikationen lagen zunächst auf Englisch vor. Zumindest bei der Lizenzausgabe von "Mies in Berlin" ist nun auch eine deutsche Ausgabe erschienen, denn die zugehörigen Schau wird demnächst in der deutschen Hauptstadt anlaufen. "Mies in America" hingegen schien die Stiftung Preußischer Kulturbesitz nicht recht zu begeistern, was besonders ärgerlich dadurch erscheint, dass sich "Mies in Berlin" in Berlin im Original am allerbesten betrachten lässt, was mit dem "Mies in America" deutlich schwerer fällt.
Mies ist vor allem für seine kristallklaren, durchrationalisierten, reduktionistischen Strukturen berühmt, für den nietzscheanisch geschulten Formwillen, in dem sich Moderne und Archaik zum Überzeitlich-Wesentlichen der Baukunst vereint. Gerade daher ist man als Leser von den Schutzumschlägen beider Bände irritiert, die einmal den Barcelona-Pavillon, einmal Mies selbst zeigen - und zwar unscharf. Diese Unschärfe soll dann auf 391 bzw. 791 Seiten wieder wett gemacht werden, auf über eintausend, Mies van der Rohe gewidmeten Seiten also, und man mag weniger von einem Buch als von einem Denkmal reden. Dabei findet man zwischen den insgesamt vier Buchdeckeln durchaus wenig Neues, was nicht zuletzt daran liegen mag, dass sich hier einmal wieder - wenige Ausnahmen sind besonders erfreulich - die üblichen Verdächtigen eingefunden haben, um die üblichen Thesen immerhin auf den neuesten Stand zu bringen.
Der Kulminationspunkt ist freilich mit der Herausgeberschaft und Kuratorentätigkeit Phyllis Lamberts erreicht, jener von dem deutschen Architekturemigranten so begeisterten Dame, der Mies erst den Auftrag für das Seagram-Whisky-Hochhaus verdankte. Zum Glück, muss man da fast sagen, blieb einer neuen Generation von Mies-Fans, die mit Ausstellung und Büchern wohl angesprochen werden soll, zumindest der obligatorische Philip Johnson erspart (im Gegensatz zur J.J.P. Oud-Retrospektive in Rotterdam), der bis zu seinem Glashaus-Streit den Meister verehrt und unterstützt hatte. Nachzulesen ist dieses Hassliebe-Verhältnis in Franz Schulzes Biographie über Johnson, jenem Autor, der auch eines der wichtigsten Mies-Bücher der letzten Jahrzehnte verfasste. Und Schulze wiederum fehlt ebenfalls bedeutungsvoll in beiden Bänden.
Publizistik, in Form von Ausstellungen oder Büchern, so scheint sich auch hier zu bestätigen, ist immer zu einem Gutteil auch Politik. Und ob man nun all das Geschehen hinter den Kulissen erfährt, von dem die Autoren- und Kuratorenkonstellationen der beiden Bände erzählen, oder nicht: Wer die beiden Bücher liest, ist zumindest von der verlegerischen und editorischen Leistung begeistert.
Ein solches Mammutprojekt auf die Beine zu stellen - warum auch immer - muss imponieren. Druckqualität, Abbildungen und Layout sind bestens aufeinander abgestimmt, im Berlin-Band wurde auch Thomas Ruffs (Stichwort, nochmals: übliche Verdächtige) Fotoserie aufgenommen, die in der Ausstellung zu sehen ist; zudem lässt sich der Band als chronologisches Werkverzeichnis trefflich benutzen. Im America-Band wird dann (fehlende Absprache?) erneut der Berliner Mies aufgerollt, ohne den schließlich der transatlantische nicht zu verstehen ist, um dann das Werkverzeichnis zu vervollständigen, was allein graphisch etwas unglücklich ausfällt. Auf Ruffs Arbeiten antwortet hier eine faszinierende Fotostrecke von Guido Guidi und Richard Pare, die die amerikanischen Bauten in ihrem Zustand im Jahr 2000 zeigt.
Neben dem Untersuchungsgegenstand für die von der Wissenschaft getriebenen Autoren ist Mies vor allem auch ein Fall für die Denkmalpflege geworden - und an dieser, substanzsichernden Stelle, nicht an der Moden unterworfenen publizistischen, wird sich zeigen, was uns Mies wirklich wert ist. Wenn Berlin im Dezember die Mies-in-Berlin-Ausstellung aus New York übernimmt, sollte vielleicht endlich auch einmal der desolate Zustand der Neuen Nationalgalerie thematisiert werden: die großen Glasscheiben wurden zum Teil durch kleinere ersetzt, die den Gesamteindruck durch unterschiedliche Tönung mittlerweile empfindlich verändert haben. Wer das Glück hat, in diesem Bau einen von Mies' Proportionskunst gerahmten Sonnenuntergang zu erleben, kann dies gleich in mehreren farblichen Abstufungen. Vielleicht wollte uns die Unschärfe der Schutzumschläge ja auch darauf aufmerksam machen.
(Christian Welzbacher)
Phyllis Lambert (Herausgeber)
Mit (englischen) Texten von Peter Eisenman, Vivian Endicott Barnett, K. Michael Hays, Rem Koolhaas, Phyllis Lambert, Cammie McAtee, Detlef Mertins, Werner Oechslin, Sarah Whiting.
Gebunden, 792 Seiten mit 630 Abbildungen, DM 198,00.
Hatje Cantz, Ostfildern 2001
ISBN: 3-7757-1076-0