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01.01.2003

Gottfried Semper 1803-1879

Bücher im Baunetz


Gottfried Semper (1803-1879) durfte bisher getrost als ein Architekt gelten, über den vor allem Märchen und Mythen grassieren. Genaues wußten allenfalls Experten, der Laie kannte die "Oper" in Dresden, allenfalls noch die "Bekleidungstheorie", wußte aber auch, dass es sich bei Semper um einen einflussreichen Mann gehandelt haben soll. Punktum. Aus.


Mit Semper war es immer ein wenig so, wie mit Adolf Loos: Der Name rief nebulöse Ahnungen wach, die sich zu Schlagworten verdichteten - und mit diesen Klischees erschöpfte sich auch das Interesse im Halbwissen. Doch ab jetzt gibt es kein Pardon mehr, denn Semper ist in grandioser Form aufbereitet, für jedermann zugänglich gemacht, anziehend und tiefschürfend, im Coffee-Table-Gewand bekleidet, doch mit festen Forschungsfundamenten bewehrt. Selten hat man ein Buch über einen Architekten von Gestern gesehen, dessen Werke durch Fotografie so gegenwärtig inszeniert werden: der Himmel ist blau, die Farben brillant, die Ornamente zeichnen sich scharf konturiert ab - was bei zahllosen aktuellen Bauprojekten als Methode der Aufhübschung bekannt ist, dient hier der Präsentation von Weltarchitektur des 19. Jahrhunderts.


Das vorliegende Riesenwerk, eine Gemeinschaftsarbeit des Architekturmuseums München und der ETH Zürich, gliedert die Arbeit Sempers in vier große Lebensabschnitte: die "Studien- und Reisezeit" (1823-34), die Zeit in Dresden (1834-1849), das Exil (1849-1855), schließlich die Stationen Zürich (1855-1871) und Wien (1871-1879). Innerhalb dieser Teile widmen sich Aufsätze (insgesamt 15 Stück) den verschiedensten Aspekten des Semperschen Wirkens.


Da die Architekten bereits im 19. Jahrhundert ihre Ausbildung außerhalb Deutschlands erhielten, werden zunächst seine Pariser Jahre näher untersucht. Doch Semper schien sich weniger an Akademien und Universitäten bilden zu wollen als an den erhabenen Originalen antiker Architektur. Auf Reisen nach Italien und Griechenland, die er Anfang der dreißiger Jahre unternahm, setzte sich Semper intensiv mit der Farbigkeit antiker Bauten auseinander und leitete daraus zentrale Schlüsse für seine eigenen Arbeiten ab. Seit Semper ist aus dem fahlen, in vornehme Blässe getauchten Klassizismus ein Spiel mit der bunten Oberfläche geworden, jedes Architekturglied ist nicht nur durch seine Form, sondern durch Material und Farbe herausgearbeitet und individualisiert.


Mit diesem neuen Stil schien Semper inmitten der Restaurationsepoche die Grenzen der Gesellschaftsschichten zu überspringen. In Dresden baute er mit dem ersten königlichen Hoftheater einen monarchischen Vergnügungstempel, der zur Befriedigung bürgerlicher Gelüste diente. Als 1848 gleichsam das Publikum gegen den Hausherrn aufbegehrte, schlug sich Semper gemeinsam mit Richard Wagner auf die Seite der Aufständischen, türmte Barrikaden auf - und musste fliehen. Über London gelangte er nach Zürich und prägte dort, nachdem er zunächst das Gebäude errichtet hatte, als Lehrer auch den Ausbildungsbetrieb der Eidgenössischen Technischen Hochschule. Weit über die 1870er Jahre hinaus, etwa als man in Bern das neue Schweizerische Parlament errichtete, war Semper als Übervater der Schweizer Architektur präsent, obwohl er selbst längst weitergezogen war in das Österreich von Elisabeth und Franz Joseph.
In Wien entstand, gemeinsam mit Carl Hasenauer, der die Bauten nach Sempers Tod zu Ende führte, das Spätwerk: die Neue Hofburg und die Häuser für die beiden Sammlungen des Kunst- und des Naturhistorischen Museums - Gebäude, die auch nach heutigen Maßstäben schlichtweg gigantisch wirken.


Dass der Überblick in Form des vorliegenden Standardwerks möglich geworden ist, liegt an zwei Anlässen: dem zweihundertsten Geburtstag Sempers 2003 und der dazu gehörigen Ausstellung, die bis zum Januar 2004 noch in Zürich zu sehen ist. Weit über seine Bedeutung als Katalog mag der Band jedoch zahlreichen Zwecken dienen: er fasst nicht allein die bisherige Forschung zusammen, sondern regt neue an. Und jenem Laien, der bislang nur den Semper der Klischees kannte, bietet er die Möglichkeit, tiefer einzusteigen in Werk und Leben eines der zentralen Gestalten des Historismus.
Dass das Buch auf mehreren "Ebenen" funktioniert, ist Ergebnis einer intelligenten Konzeption, zu der nicht allein das geschickte Layout beiträgt, sondern auch die Fotos, Pläne, Abbildungen, die bisweilen die Seiten voll ausfüllen.
Herausgeber, Autoren und Verlag haben alles Menschenmögliche unternommen, um einen Prachtband auf den Markt zu bringen.
(Christian Welzbacher)

Hrsg. von Winfried Nerdinger und Werner Oechslin
540 Seiten mit 600 Abbildungen, davon 300 in Farbe. Format 24,5 x 30 cm, Leinen, 75 Euro
Prestel-Verlag , München, 2003
ISBN: 3-7913-2885-9


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