Dramatisch
Wer interessiert sich eigentlich für Architektur? Die Architekten. Sonst noch jemand? Meistens Fehlanzeige. In unserer Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten schleichend ein Phänomen breitgemacht, das im Ergebnis einer dramatischen Umwälzung gleichkommt: Außerhalb der reinen Fachzirkel ist der Kenntnisstand und das Urteilsvermögen über Fragen der architektonischen Gestaltung nahezu gleich Null.
Und das zieht sich bis weit in „gebildete“ Schichten hinein: Da trafen wir vor einigen Jahren in Eichstätt eine Doktorandin (!) der Kunstgeschichte (!), mit eigener Studierstube in der Behnisch-Bibliothek und mit Blick auf Schattners Journalistik-Institut. Sie hatte zwar den Namen Schattner schon mal irgendwo gehört, fragte jedoch auch nach unserem langen Vor-Ort-Vortrag über das Schattnersche Konzept der bewußten Sichtbarmachung von Alt und Neu zum Schluß hilflos: „Aber wenn er die alte Architektur doch so liebt - warum haut er dann einen Betonklotz dazwischen?“
Verunstaltet
Und wir müßten gar nicht solche komplizierten Beispiele bemühen. Ob man einmal das komplett kenntnisfreie Gebaren von Lokalpolitikern in Bauausschußsitzungen erlebt hat, ob man sich in den Wohnparks, die unsere Städte umwuchern, die materialisierten Glücksbefriedigungen grüner Lehrer-Ehepaare in Form von postmodern verunstalteten Solar-Eigenheimen antun möchte - überall wird man auf eine schon pathologisch zu nennende Abwesenheit von Kompetenz in ästhetischen Fragen treffen. Während über Film und Theater, über Popmusik und sogar Malerei auf jeder Vernissage gelehrt geplaudert wird, ist das Wissen um Architektur und Baukunst oft nicht einmal in Spuren nachweisbar. Die so schön erfundene Geschichte von den 100 Abiturienten, die einen bedeutenden Architekten des 20. Jahrhunderts benennen sollten und von denen zwei Drittel keinen einzigen kannte und das restliche Drittel ausgerechet einen Herrn Hundertwasser anführte, ist leider keine Übertreibung.
Woran liegt’s? Wir ahnen, daß diese kollektive Ahnungslosigkeit irgendetwas mit Bildung zu tun haben muß - oder besser: mit Mängeln derselben. Und tatsächlich: Was in früheren Jahrzehnten zum Pflichtkanon der Allgemeinbildung gehört hatte - nämlich zumindest über Grundkenntnisse der Baugeschichte zu verfügen - lernen heutige Schüler allenfalls per Zufall. Der Rezensent selbst erfuhr den Unterschied zwischen Romanik und Gotik während seiner Schulzeit nur in einer einzigen Vertretungsstunde: Ein klassenfremder Lateinlehrer und passionierter Hobby-Bauhistoriker hielt „Rundbogen versus Spitzbogen“ für essentieller als den ablativus absolutus. Recht hatte er.
Aufgeschlossen
Die Beschäftigung mit Architektur und Baugeschichte hat in heutigen Schul-Curricula praktisch nirgends mehr einen Platz. Diese Themen trotzdem durch die Hintertür wieder in die Schule schleusen zu wollen, das ist der Anspruch des vorliegenden Lehrwerks. Eine Initiative aus der Architektenschaft (hier der Architektenkammer Hessen) schafft es, ein modernen pädagogischen Konzepten genügendes Unterrichtswerk aufzulegen, das reelle Chancen hat, bei aufgeschlossenen Lehrern berücksichtigt zu werden. Der Ansatz mußte betont jahrgangs-, schulform- und vor allem fächerübergreifend sein; die hier vorgeschlagenen Unterrichtseinheiten können wohl nur im Rahmen von Projektwochen oder ähnlichen Sonder-Lehrformen angeboten werden.
Spannend
Das von dem versierten Bauhistoriker und Publizisten Manuel Cuadra geschriebene Buch ist grob in drei Teile gegliedert. Zunächst werden die Schüler dazu angeregt, sich überhaupt mit den Phänomenen Planen und Bauen zu befassen. Dies geschieht in der Auseinandersetzung mit der eigenen Schule, mit der Analyse ihrer Vor- und Nachteile, mit der Beschreibung ihrer Einbindung in die Stadt. Ganz nebenbei erfahren die Schüler dabei etwas über die Aufgabenverteilung der Beteiligten und die Abläufe bei einem großen Bauvorhaben. Im einem zweiten Teil werden vier Vorschläge für kollektive Selbstbauprojekte gemacht - von einem Podest in der Aula bis zu einem Kunstwerk aus Abflußrohren. Das gestalterische Niveau mußte dabei auf die Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen abgestimmt werden - vielleicht der Grund, daß wir diesen Teil des Buches für eher schwächer halten.
Stark ist dagegen der dritte und letzte Teil: Eine spannende, knappe Baugeschichte des 20. Jahrhunderts anhand von sieben exemplarischen Schulbauten - von der Kaiserzeit über die klassische Moderne, die Nazi-Zeit, die Wiederaufbaujahre, die Zeiten der Lernfabriken, die Architektur der Nach-68er-Demokratie bis hin zur Postmoderne. Uns begegnen hier Architekten wie Fritz Schumacher, Ernst May, Hans Scharoun oder Günter Behnisch. Die Fotos der sieben Schulen dienen auch im allgemeinen Teil des Buches zur Illustration - eine glückliche editorische Idee.
Einzigartig
Dieses Schulbuch steht schon wegen seines Themas einzigartig da; allein seine Existenz ist schon ein großes Verdienst. Man merkt ihm überdies auf (fast) jeder Seite an, daß es von Architekten gemacht wurde. Kleinere Unsicherheiten über den Weg, dieses Thema in die Schule zu tragen, können nicht den Herausgebern angelastet werden. Es ist die Gesellschaft, die es zugelassen hat, daß Architektur und Baukunst heute keine Rolle in der Bildungslandschaft mehr spielen. Dies ändern zu wollen, ist die Absicht dieses Schulbuchs. Dazu kann man nur gratulieren.
(Benedikt Hotze)
Manuel Cuadra
Herausgegeben von der Wüstenrot Stiftung und Architektenkammer Hessen.
Werkstattbuch für den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen, kartoniert, 95 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen
Das Lehrerheft zum Werkstattbuch (ISBN: 3-12-207043-X)
Ernst Klett Verlag, Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig 1998
ISBN: 3-12-207040-5