Berlin is ooch nicht mehr det, wat es mal war: Der, Wedding wird jetzt richtè schniecke (Stichwort: Fäschenwiek), Friedrichshain gibt sich antikapitalistisch lässig und im Prenzlberg kann man zwischen Karaoke im Mauerpark, Biokuchen von Mutti oder den mutigen Anti-Schwabendemos wählen. Nur die Hundekacke auf der Straße, die is jebliebem, wa?
Wenn man im Sommer mit der S-Bahn fahren möchte, und dann zwischen dem Damen-Kegelverein aus Brandenburg, einer italienische Schülergruppe, nervös zuckenden Halbstarken und einem schlecht riechenden Mann mit einer Elvistolle steht, weiß man, dass man schnellst möglich sein Fahrrad reparieren sollte. Wenn man sich jedoch mutig mit in den Wagen drängelt und durch die Stadt fährt, sieht man sie, die vielen Statisten Berlins, die so sind, wie sie sind, weil sie so sind, wie sie sind: die Punker und ihre Hundis, den nie schlafenden Mann im Businessanzug, Langzeitarbeitslose ohne Uhren, Bauarbeiter mit ihren Bäuchen, die Studis, die ewige Ferienbohème sponsored by Papi (die in einer Stadt wie Berlin kein Auto fahren, weil sie „down to earth“ sein möchten), ehemalige Parteifunktionäre, slawische Schönheiten und – nicht zu vergessen: Sarrazins „Kopftuchmädchen“.
Schlechte Laune gehört zum guten Ton, eine gewisses, selbst gewähltes Savoir-vivre auch. Schließlich wurden in Berlin etliche Lebensweisheiten erfunden: „Arm, aber sexy“ – „Kreuzberger Nächte sind lang“ – „Ich komm aus Muschi, du Kreuzberg“ oder auch „Ich weiß, wo dein Haus wohnt!“
Wäre Berlin eine alte Dame, hätte sie viele Narben hinter und etliche Schönheitsoperationen vor sich. Der Palast der Republik hat sich in Luft aufgelöst, das ICC soll auch weg, Baulücken werden mit Investorenarchitektur gefüllt, während die Straßen am Stadtrand im Osten (und im Westen) teilweise noch nicht einmal asphaltiert sind.
Kurz gesagt: Berlin hat viele Gesichter, und die meisten kennt man nicht. Benjamin Tafel und Dennis Orel zeigen uns in ihrem Buch „Berliner Luft“ einige davon und vermitteln dabei hauptsächlich ein Lebensgefühl. Die Fotografen haben ihren – man möchte fast schon sagen Klassiker – noch mal neu heraus gebracht.
Fakten und Straßenkarten sind hier nicht zu finden, dann wäre das Buch ja ein Reiseführer. Nein, die beiden zeigen versteckte Nischen und absurde Orte, die längst vergessen scheinen und dennoch dort sind. Wenn man also die Junggesellenabschiede auf der Schlesischen Straße verdrängt und an Orte wie das Neverland im Plänterwald oder den Teufelsberg und die ehemalige US-Radarstation denkt, ist Berlin wirklich liebenswert und hat solche Bücher wie dieses unbedingt verdient. (jk)
Berliner Luft
Von Benjamin Tafel, Dennis Orel
Hatje Cantz, 2010, Deutsch, Englisch
256 Seiten, 21 x 14 cm, Softcover
16,80 Euro
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Zum Thema:
www.berliner-luft.com