Der alte Mann und das Meer: Der Jahrhundert-Gigant, das Alpha-Alphatier unter den Architekten der Moderne, Le Corbusier, hat sich – trotz seiner Herkunft von den Bergen des Schweizer Jura – Zeit seines Lebens als mediterraner Mittelmeer-Mensch stilisiert.
Wer davon eine Ahnung bekommen will, findet bei Roquebrune-Cap Martin an der Côte d'Azur noch heute einen höchst anschaulichen Ort: Zwischen Bahndamm und Kreisstraße führt ein schmaler Weg den Hang hinunter zum Meer. Hier findet man Corbusiers „Cabanon“, eine aus dem Modulor-Maßsystem entwickelte Holzhütte, in der er sich und seine Ehefrau unter minimalistischen Bedingungen zur Sommerfrische einzupferchen pflegte. Dann sieht man das direkt daran angrenzende ehemalige Restaurant „Etolie du Mer“, eine bessere Strandbude, in der der Meister sich als aufdringlicher Stammgast bei seinem Freund und Gastgeber Rebutato versorgte. Weiter gibt es eine Art Reihenhausanlage aus Campinghütten, die Corbu für eben jenen Rebutato entwarf, und schließlich, als Krönung des Ensembles, die modernistische Villa „E 1027“ von Eileen Grey, die Corbusier einmal gegen den Willen der Hausherrin im Inneren mit raumgroßen Fresken bemalt hatte.
Zur Selbstinszenierung des Architekten passt dann nur zu gut, man wagt es kaum auszusprechen, auch sein Tod. Corbusier ertrank 1965 beim Baden im Meer unterhalb seines Cabanons. Den Mann, der jeden Tag zum Baden hinab stieg, nannten seine Nachbarn kurz nur „den Alten“. Der alte Mann und das Meer...
Das vorliegende Buch nun ist angetreten, diesen Meeresbezug auch zum Antrieb des entwurflichen Schaffens Le Corbusiers zu erklären. Es enthüllt erstmalig in dieser Deutlichkeit, dass der Architekt Zeit seines Lebens Strandgut wie Muscheln und Seeschnecken gesammelt und diese zur Formfindung herangezogen hat. Niklas Maak entwickelt diesen Gedanken besonders anschaulich an jenem seltsamen skulpturalen Gebilde, das als Wallfahrtskapelle von Ronchamp in die Architekturgeschichte eingegangen ist und als berühmtester Kirchenbau der Moderne gilt, obwohl an seiner Form so gut wie nichts „klassisch“ modern ist. Ob damit aber auch, wie die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung feststellt, gleich der „Bruch zwischen Früh- und Spätwerk“ Le Corbusiers aufgehoben werden muss, kann bezweifelt werden.
Denn zu evident ist der Scheidepunkt im Œeuvre, der zeitlich etwa zwischen der Villa Savoie (1929-31) und dem Pavillon Suisse (1931-33) zu verorten ist. Während Corbus Adepten und Epigonen Ende der zwanziger Jahre begeistert den von ihm geschaffenen Formenkanon aus spindeldürren Stahlstützen, langen Fensterbändern und scharf begrenzten, stereometrischen Volumina in die Welt trugen, war das Vorbild schon weiter. Die Stützen wurden zu skulpturalen Betonwülsten, die Volumen bekamen Rundungen, die Materialien wie Beton und Ziegel blieben plötzlich rohsichtig – alles wurde schwerer und bewegter zugleich. Erst jetzt, jedenfalls nach 1945, entstanden die berühmt-berüchtigten „Wohnmaschinen“, die in der SZ noch der frühen, als „technokratisch“ bezeichneten Phase des Architekten zugeschrieben werden.
Unabhängig von Sinn oder Unsinn der Einteilung des Werks in Phasen ist hier aus einer Dissertation ein spannend zu lesendes, ungemein anregendes Architekturbuch destilliert worden, das am Ende auch den Bezug zur Gegenwart, zu Koolhaas oder SANAA, nicht scheut. Der monomane Le Corbusier kommt darin zwar nicht unbedingt besser weg als in vorangegangenen Versuchen anderer Autoren, aber der Fokus auf die Naturformen der Meereswelt eröffnet einen anderen, neuen Blick auf den Großmeister. Was will man mehr. (-tze)
Niklas Maak: Der Architekt am Strand. Le Corbusier und das Geheimnis der Seeschnecke
240 Seiten, flexibler Einband
Carl Hanser Verlag, München 2010
ISBN-10: 3-446-23499-3
17,90 Euro
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Zum Thema:
Zur Buchbesprechung „Le Corbusier: Le Grand”