„Ihr wollt ein Buch über Belgrad schreiben. Seid ihr Kommunisten, glaubt ihr an Gleichheit oder habt ihr ein Problem mit Sex?“ „Sind das die einzig möglichen Gründe für ein solches Vorhaben?“ „Ich weiß nicht, aber eine gewisse Perversion ist offensichtlich. Ein Freund von mir aus London, den ich 1995, mitten in der Kriegszeit also, in Belgrad kennenlernte, erklärte mir, warum er seinen Urlaub hier verbrachte. Alle seine Freunde waren an weit entfernte, exotische Orte gefahren. Um bei den Prahlereien über den Urlaub mithalten zu können, beschloss er, hierher zu kommen. Belgrad war zu diesem Zeitpunkt der nächste und billigste ausgefallene Ort, um Urlaub zu machen.“ Wir sitzen auf einem Balkon über den Dächern Dorćols und sprechen mit einem Mann, der sich Rambo Amadeus nennt.
So beginnt das Buch „keine weiße Stadt – a grad beo nije“. Es ist ein Buch über Belgrad. Es ist aber sicher kein typisches Architekturbuch – es fokussiert viel mehr die Geschichten der Menschen, die in dieser Stadt leben, und läßt daraus ein Bild Belgrads entstehen. Zusammen mit dem Fotografen Felix-Sören Meyer hat Luise Donschen 2005 und 2006 zehn Menschen in Belgrad gebeten, ihre Lieblingsorte in Belgrad vorzustellen. In den Interviews, Ortsbeschreibungen und den historischen Exkursen entsteht ein vielschichtiges Bild der Stadt und ihrer Bewohner: Jasmina träumt über den Dächern der Stadt von Reisen in ferne Länder. Die Bäckerin Božidarka Trpković erzählt vom Kolo-Tanzen im Bombenhagel. Der Rockstar Rambo Amadeus sinniert über die Mentalität auf dem Balkan. Der Zoodirektor berichtet davon, wie er in ein Tigerjunges an Serbiens berüchtigtsten Mafiosi vermietete, und Ana Miljanic lädt zu ihrer Theaterinszenierung in Belgrads einzigem Pornokino. Ein prachtvoll gestaltetes Buch, im positiven Sinne übervoll mit einer vielleicht etwas zu großen Menge an Geschichte und Geschichten. Darin verbergen sich aber lesens- und liebenswerten Geschichten, und wenn ein Außenstehender die Atmosphäre und das Leben in einer fremden Stadt begreifen möchte, dann geht es – wenn überhaupt – so vielleicht am Ehesten: durch die Erzählungen ihrer Bewohner.
Und die Architektur ist hier das, was sie so oft vergisst, was sie aber so oft sein sollte: Der Hintergrund und der – mal besser, mal schlechter – passende Anzug für die vielen Schwierigkeiten und Wonnen des Alltags. (Florian Heilmeyer)
Luise Donschen, Felix-Sören Meyer: „Belgrad – Keine weiße Stadt/Beograd – a grad beo nije“, Paperback, 400 Seiten, 17 x 23 cm, deutsch und serbisch, Materialverlag / Textem Verlag, 2008. 40 Euro, ISBN 978-3-938801-90-1.
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Zum Thema:
www.keineweissestadt.de
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aussenperspektive | 29.07.2009 14:54 UhrEin stadtlernbuch
Tolles projekt. Habt ihr schon einmal die erfahrung gemacht wie unterschiedlich man eine neue stadt erlebt, wenn man sie nicht von der aussen und touristenperspektive erfaehrt, sondern von einem bewohner gezeigt bekommt, mit all den schilderungen seiner individuellen betrachtungsweisen und geschichten?
Es ist unheimlich bereichernd. Lokale geschichten sind (oder sollten sein?) inspirationsquelle und relativierungsmassstab fuer unsere arbeit als architekt und staedtebauer.