Schon vor ihrer Errichtung als „Araberdorf“ und „Vorstadt Jerusalems“ verunglimpft, war die Weißenhofsiedlung eines der polarisierendsten Bauprojekte der Weimarer Republik. Dass sich die konservativen Stuttgarter Lokalgrößen Bonatz und Schmitthenner besonders über das strunzmoderne Ensemble aufregten, könnte allerdings auch daran gelegen haben, dass sie schlicht darüber beleidigt waren, für das Ausstellungsvorhaben nicht ausgewählt worden zu sein. Mies suchte die beteiligten Architekten vielmehr nach dem Motto „Links geht immer“ aus. Wie Le Corbusier, um dessen Beteiligung Mies heftig buhlte, in diesen Kreis passte, muss ein Rätsel bleiben, galt Corbu doch politisch eher als autokratisch und auf Seiten der Macht stehend.
Richtig viel hat sich der Meister denn auch nicht gekümmert; während der Bauzeit war er kein einziges Mal in Stuttgart. Er überließ alles seinem jungen Bauleiter Alfred Roth, der allerdings das Manko mitbrachte, noch nie ein Haus gebaut zu haben. Auf der chaotischen Baustelle wartete Roth stets auf Anweisungen aus Paris, und wenn diese ausblieben, improvisierte er vor Ort.
Stieß die Weißenhofsiedlung als Fanal der Moderne in der breiten Bevölkerung auf Unverständnis, so waren die prominent am Hang gelegenen Wohnungen dennoch nach der Ausstellung 1927 halbwegs begehrt. Einzig die beiden Häuser von Le Corbusier erwiesen sich als unvermietbar. Niemand wollte einen Flur, der in der Breite dem Gang eines Schlafwagens entsprach, niemand wollte eine Ess-Ecke mitten im Treppenhaus, niemand wollte Einbaumöbel aus Beton, aus denen abends die Betten ausgeklappt wurden. Daher begann die Umbau- und Umnutzungsgeschichte bereits 1933 mit einer Neuaufteilung der Grundrisse. 1958 standen die Häuser sogar knapp vor dem Abriss. Zuletzt wurde Mitte der 80er Jahre Originalsubstanz vernichtet bei dem Unterfangen, die Häuser in einen dem Original ähnlichen Zustand zurück zu versetzen.
Nun ist das Doppelhaus durch die Wüstenrot-Stiftung „instandgesetzt“ worden und wird der Öffentlichkeit als Museum dienen. Wie bei der Stiftung üblich, nahm man sich viel Zeit, die Geschichtsspuren zu erforschen und in jedem Einzelfall zu entscheiden, welche Zeitspur erhalten bleibt, wo rekonstruiert werden muss und wo Originalsubstanz erhalten bleiben kann. Der vorliegende Band ist die in diesem Zusammenhang entstandene ausführliche Dokumentation, die nicht nur über ein vorbildlich durchgeführtes Denkmalpflegeprojekt berichtet, sondern sich auch spannend liest. (Benedikt Hotze)
Zum Thema:
Georg Adlbert (Hg.): Le Corbusier/Pierre Jeanneret. Doppelhaus in der
Weißenhofsiedlung Stuttgart – Die Geschichte einer Instandsetzung.
Karl Krämer Verlag Stuttgart/Zürich, 2006. 192 Seiten, Broschur. ISBN 3-7828-1522-X, 25 Euro