Was passiert, wenn sich drei junge Architekten und Politaktivisten mit großen Visionen und einer ausgeprägten Liebe für Buckminster Fuller, Superstudio und Archigram ausgerechnet im San Francisco des Jahres 1968 treffen? Doug Michels, Chip Lord und Curtis Schreier jedenfalls gründeten Ant Farm und in den nächsten Jahren sollte dieses Künstlerkollektiv eine Fülle bemerkenswerter künstlerischer Arbeiten „an den Randzonen der Architektur“ herstellen: kulturelle, politische und gesellschaftliche Kritik mit einem augenzwinkernden Pophumor. Ant Farm experimentierte mit Videos und Fotografie und zeichnete die eigenen Arbeiten akribisch auf. Sie bauten aufblasbare Installation wie die „Dreamclouds“ an den Stränden Texas' und das „50x50-Foot Pillow“, in dem sie zeitgemässe „teach-ins“ veranstalteten, welches aber auch bei jenem berüchtigten Rolling-Stones-Konzert 1969 in Altamont als Sanitätszelt diente. Mit ihrem „House of the Century“ (1972) haben sie ein – dem Potsdamer Einsteinturm nicht unähnliches – in seiner Konstruktion und Form bis heute formidabel futuristisch wirkendes Gebäude realisiert, das die Ästhetik ihrer aufblasbaren Strukturen in ein festes Gebäude übertrug.
Sie propagierten einen nomadischen, kommunalen Lebensstil und wollten sich als „Kommentatoren“ verstanden wissen. So etwa, als sie ab 1971 für einige Jahre langhaarig und bärtig mit ihrem umgebauten „media van“ durch die USA tourten, um Vorlesungen und Performances zu veranstalten, aufzuzeichnen und zu senden. Mit ihnen reisten im „media van“ ihre aufblasbaren „ICE9“-Strukturen, die vom Motor des Busses aufgeblasen werden konnten. Zu diesen Vorführungen – inspiriert von den Bildern der Mondlandung waren dabei meistens irgendwo riesige amerikanische Flaggen im Bild – gehört auch das berühmte „Media Burn“ (1975), bei dem sich Schreier und Michels als Astronauten verkleidet in einen umgebauten Cadillac „El Dorado“ setzten um damit durch einen Stapel brennender Fernseher zu fahren. Während ihre „Dolphin Embassy“ für die Kommunikation zwischen den Spezies Mensch und Delfin leider nie realisiert wurde schufen sie 1974 mit der "Cadillac Ranch" ihr bildgewaltigstes und dadurch bekanntestes Kunstwerk – die Heckflossen von zehn Cadillacs ragen hier in einem Winkel aus dem Boden, der dem der Pyramiden von Gizeh entspricht. Noch mehr (mediale) Aufregung gab es nur, als die Gruppe 1975 bei „Eternal Frame“ das JFK-Attentat als Schauspiel am Originalschauplatz aufführten. Nach einem verheerenden Feuer in ihrem Studio, das ihre Arbeiten bis auf die Dokumentationen in Fotos und Videos vernichtete, löste sich die Gruppe 1978 endgültig auf.
Seit einigen Jahren wird die Bedeutung ihrer Arbeiten wieder erkannt – sowohl in der politischen Kunst als auch in der Architektur. Seitdem gibt es große Ausstellungen und Publikationen über ihre Arbeiten in Serie. Aber erst mit diesem Buch in der „Living Archive“-Serie ist nun eine ebenso ansprechende wie umfassende Monographie erhältlich, die jedem wärmstens ans Herz zu legen ist, der sich für visionäre, utopische und gesellschaftspolitische Architektur und Kunst auch nur erwärmen kann. Wie kann man ein solches Buch genug loben ohne die Glaubwürdigkeit des neutralen Rezensenten zu beschädigen? Gar nicht. Ich verletze also dieses Neutralitätsgebot und bekenne mich stattdessen als begeisterter Leser und seitdem großer Anhänger dieses Buchs, das eigentlich aus zwei Büchern besteht. Das erste Buch, „The Allegorical Time Warp“, beschreibt die Arbeiten – und also das Leben der Gruppe – im Kontext ihrer Zeit. Und Kontext bedeutet hier vom Parteitag der Demokraten 1968 in Chicago über den Vietnamkrieg zur Präsentation der ersten tragbaren Videokamera von Sony und der Entführung von Patty Hearst. Erst im zweiten Teil des Buchs, der „Timeline“, werden dann die originalen Dokumente, Zeichnungen, Fotos oder Filmstills der Arbeiten von Ant Farm in streng chronologischer Reihenfolge ausgebreitet. Nach 320 Seiten hat man noch immer das Gefühl, nicht genug bekommen zu können.
Dieses Buch zeigt den Kontext und die heutige Relevanz von Ant Farm, aber es transportiert dabei auch den Humor und die Energie dieser Gruppe. Man hat nie das Gefühl, ein verstaubtes Archiv betreten zu haben, sondern eher das Gefühl, mit den Gründungsmitglieder der Gruppe in einem ihrer „teach-ins“ gelandet zu sein. Mit anderen Worten: es ist ebenso informativ wie unterhaltsam. Wie könnte man da nicht Anhänger dieses Buchs und damit von Ant Farm sein?
- Florian Heilmeyer
Living Archive #7: Ant Farm
Felicity D. Scott (Hrsg.)
Actar Publishers, Barcelona/New York, 2008
320 Seiten, soft cover, 17x21 cm, englische Sprache, 39 Euro.
ISBN 978-8496954243
Zum Thema:
www.antfarm.org