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01.01.1998

Architektur! Das 20. Jahrhundert

Bücher im BauNetz


Oberflächlich betrachtet...
Was gibt es Unangenehmeres, als sich selbst dabei zu ertappen, oberfächlich zu sein? Vielleicht sehen auch Sie in den nächsten Wochen irgendwo dieses Buch ausliegen. Sie denken: „Ein silbernes Cover? Und wofür braucht die Architektur ein Ausrufezeichen? Warum sollte ausgerechnet das Chrysler-Building die Baukunst des 20. Jahrhunderts repräsentieren? Ein Überblick über die zahllosen Meilensteine unserer Epoche, für nicht einmal 50 Mark?" Innerhalb weniger Sekunden haben Sie - genau wie die Rezensentin - Ihr womöglich vorschnelles Urteil gefällt: Das alles klingt nach einem typischen Coffeetable-Machwerk, einem großen Bilderbuch, mit dem der interessierte Laie gerne seine heimische Sitzgruppe dekoriert, das Sie aber bestimmt nicht brauchen - auch wenn Sie vielleicht wissen, daß der Prestel-Verlag normalerweise nicht zu den üblichen Verdächtigen aus dem Kreis der Fast-Food-Fachbuch-Produzenten gehört.


Aus der Nähe betrachtet
Möglicherweise nehmen Sie das Buch dann aber doch in die Hand und blättern ein bißchen darin. Sie schlagen zum Beispiel zufällig als erstes die Seite 42 auf: Rudolph Michael Schindler. Sie blättern weiter. Seite 52: Konstantin Melnikow. Sie werden langsam unruhig, da Sie diese Architekten nun wirklich nicht erwartet hätten, und blättern noch weiter: Zwischen den „gängigen" Ikonen wie der Wiener Postsparkasse, dem Bauhaus, der Villa Savoye, Fallingwater oder dem Guggenheim-Museum finden Sie, jeweils auf einer Doppelseite präsentiert, Joseph Maria Olbrichs Hochzeitsturm auf der Darmstädter Mathildenhöhe, das Maison de Verre von Pierre Chareau in Paris und Buckminster Fullers Weltausstellungspavillon in Montreal. Natürlich begegnen Ihnen das Fagus-Werk, das Centre Pompidou, das Münchner Olympiastadion und die Oper in Sydney, aber eben auch Terragnis Casa del Fascio in Como, Sverre Fehns Archäologisches Museum in Hamar oder Rem Koolhaas` Kunsthalle in Rotterdam.


Starke Argumente
Spätestens wenn Sie - ohne mit einem einzigen Botta konfrontiert zu werden - beim jüngsten Schweizer Beitrag, nämlich bei Zumthors Thermalbad, angekommen sind, und wenn Sie dann noch sehen, daß die Herausgeberin Sabine Thiel-Siling ihren chronologisch aufgebauten Überblick mit dem Guggenheim-Museum in Bilbao und nicht etwa dem Potsdamer Platz als letztem Eintrag beschließt, dann ist Ihnen wahrscheinlich klar geworden, daß dieses Buch doch nicht nur für den Couchtisch konzipiert wurde. Mit dieser Einsicht können sie die schön gestalteten Seiten ganz in Ruhe auf sich wirken lassen und genießen: Ein Erläuterungstext, zahlreiche, fast ausnahmslos gute Fotos (einschließlich Detailaufnahmen) dokumentieren die Projekte, die zusätzlich durch Grundrisse, Schnitte oder Ansichten, zum Teil auch Isometrien oder Handskizzen verständlich gemacht werden. Die Architekten selbst werden jeweils durch ein kleines Porträtfoto und eine Kurzbiographie mit den genauen Lebensdaten, den wichtigsten Bauten, Auszeichnungen, Lehrtätigkeiten und eigenen Publikationen vorgestellt.


Starke Texte
Da Sie sich inzwischen mit dem Buch angefreundet haben, wird es Sie auch überhaupt nicht mehr wundern, daß die Texte von durchgängig hoher Qualität sind. Sie beschreiben nicht nur die vorgestellten Gebäude, sondern ordnen diese in das Werk der betreffenden Architekten und den großen Gesamtzusammenhang des 20. Jahrhunderts ein. Die Qualität kommt nicht von ungefähr: Die Autoren sind handverlesen, alle erfahren und bewährt, bisweilen hochkarätig. Da die Beiträge mit Kürzeln gezeichnet sind, können sie nach der Lektüre erfreut feststellen, daß Ihnen soeben Manfred Sack das Hamburger Chilehaus von Fritz Höger oder Wofgang Bachmann den Dachausbau von Coop Himmelb(l)au vorgestellt haben, daß Ihnen Hertzberges Strukturalismus von Wolfgang Jean Stock erklärt wurde, und daß sich hinter H.I., der Sie durch Berlages Amsterdamer Börse und Nervis Sportpalast in Rom begleitet hat, Hans Ibelings verbirgt. Das gesamte Autorenteam wird im Anhang kurz vorgestellt; hier schließen sich ein Architekten- und ein Ortsregister an.


Überzeugt!
Dieses Buch ist zwar unglücklich verpackt, aber es ist ein gutes Buch! Es ist bezahlbar und leistet genau das, was man von einer solchen Jahrhundert-Übersicht verlangen kann. Die Auswahl der Projekte und Architekten ist mit sicherer Hand getroffen und deswegen überzeugend. Die Art der Präsentation kommt dem Architektur-Einsteiger entgegen: In den zur Verfügung stehenden, recht kleinen Rahmen einer Doppelseite ist eine Fülle von Informationen über jedes Projekt gepackt und von den Autoren so gekonnt zusammengefaßt, daß der Gesamtüberblick gewahrt bleibt. Wer mehr wissen will, kann sich an das überaus aktuelle Literaturverzeichnis im Anhang halten, wo alle relevanten Architekten- bzw. Werkmonographien verzeichnet sind. Da die Informationen jede Menge Substanz und Tiefgang haben, erreicht das Buch aber auch den Architektur-Profi, der sich daran erinnert, warum der Besuch der Baugeschichte-Vorlesungen immer sinnvoll war, daß alles seine Wurzeln hat und auch in der Architektur das Rad nicht mit jedem Entwurf neu erfunden wird. Wer also nicht schon sein Regal voller Standardwerke zum Nachschlagen hat, kann sich freuen, die wirklich richtungsweisenden und zeitlos gültigen Meisterwerke des Jahrhunderts in einer so sachverständig aufbereiteten, kompakten und dazu optisch ansprechenden Form zwischen zwei Buchdeckeln serviert zu bekommen. (Katrin Voermanek)


Sabine Thiel-Siling (Herausgeberin)
Gebunden, 24 X 30 cm, 192 Seiten mit 522 Abbilungen, davon 307 in Farbe,
Prestel, München, London, New York 1998
ISBN: 3-7913-2013-0



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