Einzelkämpfer mit Breitenwirkung
Erich Mendelsohn zählt zweifellos zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der architektonischen Moderne. Gleichwohl stand er lange Zeit im Abseits der modernistischen Architekurhistoriographie. Er, der dem Büro- und Geschäftshausbau wie kaum ein anderer sein Gepräge verliehen hat, das man gewöhnlich mit dem Prädikat „mendelsohnesk“ bezeichnet, war trotz seiner Breitenwirkung ein Einzelkämpfer. Mendelsohn war weder Mitglied der CIAM, noch wurde er von Henry-Russel Hitchcock und Philip Johnson zu der legendären Ausstellung „The International Style“ (1932) eingeladen. Von publizistischen Propagandisten der Moderne wie Sigfried Giedion wurde er schlichtweg ignoriert. Das hatte vielfältige Gründe. Dazu zählte zweifellos die Ausgrenzung durch das erzwungene Exil, aber eben auch Mendelsohns architektonisch-künstlerisches Credo, das sich nur schwer mit einer kanonisierten Moderne in Einklang bringen ließ.
Großstadtarchitektur ohne Dogma
Mendelsohn war kein wortgewaltiger Theoretiker, erst recht kein Dogmatiker. Als andere sich noch in Wortgefechten ergingen und über die kommende Baukunst debattierten, hatte er schon einige seiner wichtigsten Bauten realisiert. An den hitzigen Debatten seiner Zeit beteiligte er sich nur sporadisch. Fragen der Standardisierung und Typisierung interessierten ihn wenig, wie er auch kaum am Wohnungs- und Siedlungsbau mitwirkte. Seine Domäne war der Büro- und Geschäftshausbau. Er war denn auch einer der wenigen, die „Großstadtarchitektur“ nicht nur erträumten, sondern tatsächlich bauten. Dabei ging es ihm nie um schematische Lösungen. Jeder Bau war ein Unikat und speziell für den jeweiligen Bauplatz und urbanen Kontext konzipiert. Auch die Wahl neuester technischer Möglichkeiten führte bei ihm nicht zur Uniformität, sondern zu ausgefeilten Detaillösungen und einer markanten Ästhetik. Sie ging einher mit dem Gebrauch erlesener Materialien, wie sie unter modernen Architekten jener Zeit sonst nur bei Mies van der Rohe Verwendung fanden, mit dem Mendelsohn weit mehr verband, als es der vordergründige Gegensatz von „Organiker“ und „Klassizist“ vermuten ließe.
Wenig bekanntes Spätwerk
Im Gegensatz zu Gropius, Le Corbusier und Wright, bei denen die Literatur über ihre jeweiligen Lebenswerke unüberschaubare Ausmaße angenommen hat, ist Mendelsohn lange Zeit verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Abgesehen von der von Bruno Zevi herausgegebenen „opera completa“ aus dem Jahre 1970, die weitgehend eine Bildmonographie war, gab es bislang kaum ein brauchbares monographisches Werk über ihn. Lediglich eine Auswahl von Briefen und Selbstzeugnissen sowie die von Mendelsohn 1930 selbst besorgte (und 1988 vom Deutschen Architektur-Museum erneut herausgegebene) Monographie „Das Gesamtschaffen des Architekten“ waren verfügbar. Darüber hinaus kam man kaum umhin, auf die zeitgenössischen Zeitschriftenartikel zurückzugreifen, die - da Mendelsohn einer der meistpublizierten Architekten seiner Zeit war - zumindest das Werk in Deutschland verhältnismäßig gut erschließen ließen. Lange Zeit unberücksichtigt geblieben ist indessen Mendelsohns Schaffen nach seiner Emigration aus Deutschland, die ihn nach Großbritannien, Palästina und in die USA geführt hat, und dessen Umfang dem Werk in Deutschland annähernd gleichkommt. Im vergangenen Jahrzehnt sind eine Reihe von (z. T. entlegenen) Forschungen zu dieser zweiten Werkperiode erschienen. Sie vermochten das bislang recht einseitig auf den Mendelsohn der zwanziger Jahre fixierte Bild zu erweitern und dem ein umfangreiches „Spätwerk“ an die Seite zu stellen. Dieses scheint auf den ersten Blick nur wenig mit dem Berliner Mendelsohn gemein zu haben, was aber kaum verwundert, da es unter völlig anderen Voraussetzungen und Bedingungen entstanden ist.
Gelungenes Kompendium
Diese Forschungsergebnisse zu bündeln und in angemessener Weise zu publizieren, ist der Anspruch der von Regina Stephan herausgegebenen Monographie. Sie und die vier hinzugezogenen Co-Autoren (Charlotte Benton, Ita Heinze-Greenberg, Kathleen James, Hans R. Morgenthaler) zeichnen in chronologischer Folge den Lebensweg und das architektonische Schaffen Mendelsohns nach, wobei je nach wissenschaftlicher Ausrichtung und Akzentsetzung der Autoren die einzelnen Lebens- und Werkabschnitte aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden. Daß dies keine ultmative und lückenlose Monographie aus einem Guß ergeben kann, liegt auf der Hand, wie auch eingeweihte Mendelsohn-Kenner nicht allzu viel Neues erfahren dürften. Gleichwohl steht mit dem Buch ein kompaktes und gut ausgestattetes Kompendium zur Verfügung, das für die nächsten Jahre wohl unverzichtbar sein wird. Verglichen mit dem, was an Monographien im Falle der vermeintlichen „Heroen“ der Moderne vorliegt, mag sich dies recht bescheiden ausnehmen. Angesichts dessen aber, daß wir im Falle der sogenannten „Väter“ der Moderne wie Messel, Behrens oder Moser derlei noch immer vermissen, wird man das vorliegende Buch umso mehr zu schätzen wissen. (Markus Jager)
Regina Stephan (Herausgeberin)
Gebunden, 344 Seiten mit 343 Abbildungen,
Verlag Gerd Hatje, Ostfildern 1998
ISBN: 3-7757-0758-1