Delta der Modernen Architektur
Seit dem Ende der sechziger Jahre läßt sich eine Aufspaltung der modernen Architektur in parallele Strömungen feststellen. Populismus neben Minimalismus, Kritischer Regionalismus neben „Dirty Realism“, Ordnungsrufe neben der Aufforderung zur Unordnung. All diese Tendenzen existierten in der Vergangenheit gleichzeitig, dienten einander aber meist nur als Feindbild. In den neunziger Jahren läßt sich eine gegenseitige Überlagerung dieser bisher parallel laufenden Strömungen beobachten. In der zeitgenössischen Architektur gibt es keine einzelnen Schulen mehr, sondern nur einzelne Persönlichkeiten, die sich mehrerer unterschiedlicher Quellen bedienen und miteinander im Dialog stehen.
Die wichtigsten Protagonisten und Hauptwerke aus diesem „Delta der Architektur“, wie es der amerikanische Kritiker William J.R. Curtis beschreibt, zeigt die spanische Architekturzeitschrift „El Croquis“ in einer „worlds“ genannten Trilogie.
Gemeinsamer Nenner
Die vermeintliche Unübersichtlichkeit der Strömungen in diesem weitverzweigten Delta erhält in den drei „El Croquis“-Heften ein frappierend einheitliches Erscheinungsbild. Und das liegt weniger an den Projekten selbst als an deren Darstellung. Die Arbeiten aller Stars von Siza bis Koolhaas, von Libeskind bis Gehry wurden demselben Fotografen zur Interpretation anvertraut: Hisao Suzuki. Man darf annehmen, daß dies eine sehr bewußt gefällte Entscheidung war, denn schließlich vermittelt sich im Starsystem der Architektur ein Werk überwiegend durch Bilder und nur zu einem geringeren Teil durch Texte. Es drängt sich also die Frage auf, ob die Ansichten der Protagonisten wirklich so unterschiedlich sein können, während die Bilder doch so ähnlich sind? Oder zeigt sich hier unvermutet ein gemeinsamer Nenner im Delta der Architektur? Zöge man einen allgemeinen Schluß aus dieser Beobachtung, so ginge es am Ende des Jahrhunderts um eine Architektur, die wegen ihrer Betonung von Material und Farbgebung auf bunte Bilder angewiesen ist und die darüber hinaus auch ohne eine Darstellung ihres Gebrauchs auskommt. Eine Architektur, bei der die Behandlung der Oberflächen wichtiger ist als die Ausformung des Raums. Eine Architektur also, bei der die Fläche weit mehr zählt als das Volumen.
Schöner Schein
Doch der schöne Schein hat auch seine Schatten. Was progressiv wirkt, kann in Wirklichkeit auch ein Rückschritt sein. Dies wird exemplarisch an Gehrys Guggenheim Museum gezeigt: Auf 60 opulenten Seiten wird es mit Fotos und Zeichnungen gefeiert, anschließend im Kleingedruckten durch den spanischen Kritiker Josep Quetglas als ein Werk des vorigen Jahrhunderts vorgeführt. Kern der Kritik ist die Feststellung, daß der Benutzer des Gebäudes nur Beobachter eines Spektakels sei und nicht mehr Teilnehmer eines „erweiterten Kunstwerks“. Für den Beobachter reichen Bilder, während der Teilnehmer Erfahrungen fordert. Wenn daher die neueste Architektur eine Architektur für Beobachter ist, dann ist dies eine weitere Erklärung dafür, warum sich die Projekte so gut fotografieren lassen und warum Bilder für die Darstellung der Werke eigentlich ausreichend sind.
Globale Architektur auf dem Dorf
Es widerspricht dem Gedanken der Globalisierung, daß die Gebäude der „worlds“-Trilogie in nur einigen wenigen Ländern stehen. Nicht etwa in Amerika und nicht in England, obwohl gerade dort die bekanntesten Avantgarde-Schulen wirken. Und auch nicht in Südost-Asien, obwohl dort ein gewaltiger Bauboom zu beobachten ist. Gute Architektur gedeiht letztendlich nur in Japan und in Mitteleuropa. Bemerkenswert sind zudem die exakten Standorte der Bauten. Die Meisterwerke stehen fast ausschließlich in der Provinz, die globale Architektur findet auf dem Dorf statt: in Oogaki, Hamaröy, Vals und Osnabrück. Auffällig ist auch die Auswahl der Architekten. Keines der in den „El Croquis“-Bänden präsentierten Bauwerke stammt aus deutschen Büros, was bei der außerordentlichen Bautätigkeit und Tradition in diesem Land verwunderlich ist. Und dennoch: die Vielzahl der deutschen Absolventen, die in eben jenen Büros arbeiten, deren Werke zur Weltspitze gezählt werden, läßt hoffen, daß in Zukunft das Delta der zeitgenössischen Architektur hierzulande nicht weiterhin austrocknet. Zum Schluß: Die „El Croquis“-Hefte sind eine einzigartige Modenschau - aber eine wunderschöne. (Nikolaus Knebel)
El Croquis Ausgaben 88/89, 91 und 92,
El Croquis Editorial, Madrid 1998