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01.03.1998

Die Architektur des Expressionismus

Bücher im BauNetz


Traum, Rausch und Läuterung
Wäre das Buch nicht längst ein Klassiker, es würde jetzt zum Standardwerk werden müssen. Mit wieviel Verve muß wohl auch der Verleger daran gearbeitet haben, „Die Architektur des Expressionismus“ neu herauszugeben? 1973 erschien das Buch zum ersten Mal im roten Einband; 1981 folgte eine inhaltlich unveränderte Paperback-Ausgabe, und nun liegt es in der dritten Auflage größer, schwerer, bunter, insgesamt prächtiger vor dem Leser. So nimmt die Formen- und Farbenfülle der Architekturzeit zwischen 1910 und 1925 vollends gefangen. Die von Pehnt bereits mit der Erstausgabe etablierte Einsicht, daß die expressive Architektur nicht als ein „krauser Seitenpfad der Entwicklung, sondern als eine seit langem vorbereitete, notwendige Phase der europäischen Baugeschichte” gelten muß, kann nur nochmals unterstrichen werden. Das Buch ist eine umfassend gültige Gesamtschau über den zentraleuropäischen Architektur-Expressionismus. Vollständig überarbeitet und neu gegliedert sind im Hauptteil die wichtigsten Vertreter dieser Baukunst monographisch dargestellt.
Beginnend mit einem Schlüsselwerk hatte Pehnt den Text der Erstausgabe aufgebaut: Hans Poelzigs „Großes Schauspielhaus” in Berlin von 1919, das 1986 abgerissen wurde. Poelzig, wie auch Peter Behrens (Verwaltungsbau Farbwerke Hoechst, Frankfurt,1920 - 24) und einigen anderen Architekten sind nun eigene Kapitel gewidmet, außerdem den wichtigsten „Schulen”: dem frühen Bauhaus, den Amsterdamern, den Anthroposophen und den Norddeutschen. Wesentlich erweitert ist das Buch durch die sogenannten „Vorwegnahmen”, jene Spuren, in denen sich das kurze, aber um so intensivere Aufblitzen des Ausdrucksstils ankündigte: Kataloniens Modernisme, den Prager Kubismus und den deutschen Zyklopenstil.


Die Morgenröte einer neuen Welt
1973 formulierte Wolfgang Pehnt Bedenken, daß das Buch und das gesammelte Bild- und Skizzenmaterial eine Welle des Expressionismus-Historismus auslösen könnte. 25 Jahre später sieht er sich in der Rückschau bestätigt, und zwar durch jene Architekturen, die die einst pathetischen Visionen unverstanden zitierten. Ganz so dramatisch dürfte die Wirkung des Buchs allein wohl nicht zu sehen sein. Schließlich haben auch andere die frühmodernen Phantasten ausgegraben und publiziert, und außerdem fiel das Erscheinen des Buches in eine Zeit, in der nach dem Schrecken des Bauwirtschaftsfunktionalismus überall nach neuen Bildern gesucht wurde. Warum sich also nicht auch beim Expressionismus bedienen? Was das Buch aber ganz bestimmt bewirkte, ist, daß die gebaute Ausdruckskunst zum breiten Forschungsthema wurde. Pehnt stand für diese Neuauflage somit vor ganz anderen Problemen als 1973. War es damals noch relativ schwierig, an Originalmaterial zu gelangen, so galt es nun eine große Fülle an Forschungsmaterial zu ordnen. Der Autor hat aber nicht nur ausgeweitet und ergänzt, sondern auch gestrafft. So ist dem Futurismus kein eigenes Kapitel mehr zugedacht. Zu sehr sei er mit realpolitischen Gegebenheiten verquickt gewesen, befand Pehnt - mehr als es die soziale Utopie der Expressionisten, die sich der Zukunftsprojektion in wunderbaren Kristallwelten verschrieben hatte, jemals war.


Kristallseelen
Die expressionistisch zeichnenden und bauenden Künstler haben nach „Totalität des Kunsterlebnisses” und Beanspruchung aller Sinne gestrebt. Im Buch ist eine Ahnung davon eingefangen und blüht in Skizzen, Zeichnungen und Fotografien, die gleichwertig nebeneinander und in bester Reproduktionsqualität wiedergegeben sind. Mendelsohns dynamisierter Zeichenstil, Scharouns blitzende Kristalle und Tauts geformtes Gletschereis vermitteln nicht nur ein individualistisches Kunstwollen, sondern die Suche nach Kunst für alle in einer „neuen und besseren Welt”. Den Begriff des Expressionismus hat wahrscheinlich Adolf Behne in die Architektur gebracht, ein paar Jahre nachdem er um 1910 in der bildenden Kunst eingeführt worden war. Es schien sich nach dem verstaubten Epigonentum des 19. Jahrhunderts und der privaten Mäzenatenkunst des Jugendstils eine Chance auf Reinigung, Klärung und Läuterung zu bieten. „Kristallseelen” wurden geboren, nicht nur in Paul Scheerbarts phantastischen Romanen, sondern auch in der Hoffnung auf „Neugeburt” nach dem Schrecken des Ersten Weltkriegs.


Expressionismus
Die Wirkungsbereiche einer Kunst, die in geheimnisvollen Bauregeln, in Disharmonien und Dissonanzen doch nach einem Gesamten strebte, lagen naturgemäß in der Illusion und Imagination: Theater, Bühne, Film, der neue Kirchenbau und die Hybris der hohen Häuser. Pehnt nennt sie die „Aufgaben” des Expressionismus, und das was danach kam, faßt er im Kapitel „Folgen” zusammen. Das Neue Bauen, die Vertreter der klassischen Moderne, hätten sich lange Zeit gegen die Akzeptanz ihres eigenen Stammbaums gesträubt, doch jeder der mitteleuropäischen Modernisten habe nun mal ein Stück expressive Vergangenheit. Unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg trat dann doch eine deutliche „Abkühlung” ein, eine Hinwendung zum Pragmatismus und zum Diesseitigen. Die Sozialpaläste des „roten Wien” etwa zeigten diesen „Expressionismus aus zweiter Hand”. Als viel dunklere „Folge” gilt die Verwendung expressiver Elemente für die NS-Architektur. Gemeinsam war den beiden Bewegungen das proklamierte „Volksnahe” (wenn auch mit unterschiedlichen Inhalten) und der Glaube an die Macht zur Veränderung durch Architektur. Nur zum Nachschlagen ist das Buch damals wie heute nicht gedacht. Beim Lesen öffnen sich die Bilderwelten der Phantasten. Und wäre es Architekten zu verdenken, wenn sie sich wieder nicht an Pehnts Appell hielten, der Versuchung unterlägen und bauend daraus zitieren würden?


Wofgang Pehnt
Dritte, vollständig überarbeitet und ergänzte Auflage.
Gebunden, 368 Seiten mit 541 Abbildungen,
Verlag Gerd Hatje, Ostfildern 1998
ISBN: 3-7757-0668-2



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