„Dio mio, bitte stürzen Sie nicht über die Brüstung!“ Mit diesen Worten beginnt nicht nur dieses verdienstvolle Büchlein, sondern auch eine einzigartige Forschungs-Story, mit der drei Frauen von der TU Cottbus eine der verwegensten und unbekanntesten Villen der Moderne ins internationale Bewusstsein zurückholen. „Dio mio, mein Gott!“ rief Marilù Oro, Bewohnerin der Villa Oro bei Neapel.
Adressatinnen des Warnrufs waren Inken Baller und Gisela Schmidt-Krayer, die auf einer Architekturexkursion das machten, was man immer auf einer Architekturexkursion macht, wenn man ein Privathaus besichtigen will, sich aber nicht traut, zu klingeln: Sie sind geklettert, um einen Blick zu erhaschen. Und wären dabei fast abgestürzt. Denn das Haus liegt an einem Steilhang über dem Meer. Jedenfalls lud die Hauherrin die beiden Gäste ein, sich die Villa auf herkömmliche Weise anzuschauen: Sie öffnete ihnen die Tür. Und nicht nur ihnen, auch ihren Studenten.
Im Oktober 2005 fand ein Workshop in der Villa statt, bei dem diese komplett aufgemessen, die Archive eingesehen und Interviews geführt worden. Das Ergebnis ist dieses Buch, in dem erstmals exakte Architekturpläne der Villa publiziert werden, darunter Grundrisse in vier Ebenen, womit das komplexe räumliche Gefüge des Hauses erstmals verständlich wird.
Doch was hat es mit der Villa Oro in Posillipo (heute zu Neapel gehörend)
auf sich? 1937 zog der erfolgreiche Arzt Augusto Oro mit seiner Gouvernante, seinem Gärtner und Chauffeur und seiner Köchin in die 400 Quadratmeter große, für ihn neu gebaute Villa mit über 20 Räumen. Fünf Jahre später starb er bei einem Eisenbahnunfall. – Entworfen wurde die Villa von einem der ungewöhnlichsten Planer-Gespanne der Moderne:
Zusammengetan hatten sich der neapolitanische Brücken- und Straßenbau-Ingenieur Luigi Cosenza (1905-84), der mit seiner Fischmarkthalle (Mercato Ittico, 1929-35) die Moderne nach Neapel holte, und der österreichische Architekt und Theoretiker Bernard Rudofsky (1905-88), der zuvor unter anderem bei Erich Mendelsohn gearbeitet hatte und später, 1964, berühmt werden sollte für die von ihm fürs MoMA konzipierte Ausstellung „Architecture without Architects“.
Die Villa Oro liegt mit ihren bis zu dreigeschossigen Kuben wie ein kleines Dorf auf einem steil aufragenden Felsvorsprung. Anders als die rationalistischen Architekten der dreißiger Jahre wie Terragni oder Libera greifen Consenza und Rudofsky mit ihrer anthropologischen und kontextuellen Haltung den strukturalistischen Ideen von Aldo van Eyck und Herman Hertzberger vor. „Die Villa Oro verdient es durchaus, mit den programmatischen Villen der zwanziger und dreißiger Jahre genannt zu werden“, schreibt Inken Baller. Mit diesem Buch haben sie und ihre Mitstreiterinnen diesem Anliegen einen guten Dienst erwiesen. Dio mio!
(Benedikt Hotze)
Villa Oro: Luigi Cosenza, Bernhard Rudowsky, 1937, Neapel. Gebunden,
122 Seiten, 22,8 x 14 cm, 19,50 Euro.
Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn, 2008
ISBN-10: 3939721042