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01.01.1999

Marzahn - Photographien eines Ortes in Ostdeutschland

Bücher im BauNetz


"Sich eine Stadt ausdenken zu wollen ist wie der Versuch, ein künstliches Lebewesen zu erfinden" - so zitiert Wolfgang Kil in seinem einleitenden Essay im vorliegenden Band den tschechischen Kritiker Dan Hruby. Die "ausgedachte" Stadt, um die es hier geht, ist Deutschlands größte zusammenhängende Neubau-Maßnahme der Nachkriegsjahrzehnte, für die der Begriff "Siedlung" haarsträubend untertrieben wäre: 160.000 Einwohner zählt Marzahn - und ist damit schon für sich genommen eine veritable Großstadt. Im Zusammenspiel mit Hellersdorf und Hohenschönhausen, mit Lichtenberg und Altglienicke und wie sie alle heißen wird daraus ein Neubau-Moloch an der Ostberliner Peripherie, der von der Einwohnerzahl eher mit Dresden oder Düsseldorf zu vergleichen wäre als mit dem Märkischen Viertel oder der Gropiusstadt.

All das, was der Plan-Sozialismus nicht mehr in der zuletzt immer schneller verrottenden Altbausubstanz der vorhandenen gründerzeitlichen Stadt unterbringen konnte - weil schlicht die Handwerker und der politische Wille fehlten, diese zu sanieren - kam in die "Platte". Die Neubauwohnungen in Großtafelbauweise waren in den siebziger und achtziger Jahren überaus begehrt. Hier kam das heiße Wasser zum Duschen und Heizen wie im Schlaraffenland einfach aus der Wand - man konnte die Heizkörper nicht mal abstellen, weil dafür die Ventile fehlten. Junge Paare haben eigens geheiratet, um in Marzahn eine Wohnung zugeteilt zu bekommen, und sie haben ihre staatlichen Ehekredite "abgekindert": Für jedes Kind wurden ihnen Schulden erlassen.

Die damals - offenbar für die meisten unattraktivere - Alternative wäre eine Altbauwohnung im Hinterhaus gewesen, ohne Bad, aber mit der Lizenz zum Brikettschleppen. Das urbane Leben war zu DDR-Zeiten nicht unbedingt ein Anreiz, in dichtbebauten Innenstadtvierteln wie Prenzlauer Berg oder Friedrichshain zu leben: Kneipen gab es dort kaum, und wenn, dann hatten sie ab 21 Uhr geschlossen. In Marzahn dagegen gab es alles, sogar eine Geschäftspassage mit drei Dutzend Läden. Und an jeder Ecke eine Kinderkrippe. Kein Wunder also, daß hier der sprichwörtliche Humboldt-Professor mit der nicht weniger emblematischen KWO-Schichtarbeiterin Wand an Wand zusammenlebte.

Noch heute gibt es in Marzahn eine Sozialstruktur, die sich statistisch sehen lassen kann: Das Bildungsniveau ist überdurchschnittlich, die Arbeitslosenquote dagegen deutlich niedriger als sonst in Ostdeutschland. Aber die Stigmatisierung der Großsiedlungen als Sozialgetto, Slum oder Bronx, die in den Medien ungeachtet der real existierenden Verhältnisse so süffig betrieben wurde, blieb nicht ohne Folgen. Die Jüngeren und Beweglicheren ziehen hier seit Jahren weg - nicht unbedingt "in die Stadt" nach Prenzlauer Berg, sondern ins Eigenheim-Glück im Berliner Umland. Zurück bleiben verwahrloste Gemeinschaftseinrichtungen, vernagelte Kitas, Gleichgültigkeit gegenüber dem öffentlichen Raum, Autostau und - horribile dictu - Rechtsradikalismus als die dort derzeit angesagteste Ausprägung jugendlicher Subkultur.

In Marzahn sind Menschen untergebracht worden, keine Getreide-Tonnagen. Gleichwohl hat sich ein Fotograf des Themas angenommen, der zuvor mit einer aufsehenerregenden Fotoschau der "Buffalo Grain Elevators" auf sich aufmerksam gemacht hatte. Seine betörend schönen, tieffarbigen Architekturaufnahmen von riesenhaften, verlassenen Getreidesilos aus der amerikanischen Kornkammer haben inhaltlich gar nichts, formal aber viel mit den Marzahn-Bildern zu tun. Auch die Typenbauten aus Marzahn werden als farbige Artefakte im diffusen Licht des weiten Landschaftsraums dargestellt. Man spürt - und akzeptiert - geradezu die Leidenschaft des Fotografen, die Plattenbauten noch in der historisch reinen, ursprünglichen Form abzulichten - bevor sie von irgendeiner Sanierungsfirma mit hohler Thermohaut und poppig-postmodernem Malermeister-Schnickschnack verunstaltet werden.

Neu an dieser Aufgabe war für ihn, daß er auch Menschen auf seinen Bildern unterbringen mußte. Es sind hauptsächlich Kinder, die er zum Posieren vor seine altmodische Fachkamera bat - und wir lesen in den Gesichtern durchaus einiges, wenn auch meist nichts gutes. Die Kinder der Humboldt-Professoren sind jedenfalls wohl längst zu alt oder zu weit weg, als daß der Fotograf sie hier noch hätte antreffen können. Stattdessen sehen wir rauchende Fünfzehnjährige, die wir auch in einer gehobenen Illustrierten-Reportage über Moskauer Straßenkinder glaubwürdig gefunden hätten.

Fazit: Ein Fotobuch der Extraklasse, das uns auch noch mit einem nachgeschalteten, genauen Plan von Marzahn die exakte Lokalisierung der Aufnahme-Standorte ermöglicht. Wir vermuten, daß es als Kunstbuch betrachtet werden wird und im Regal neben den puristischen Arbeiten von Bernd und Hilla Becher "zu stehen kommt", wie der Berliner sagen würde. Das Alltagsleben in dieser Großsiedlung wird von solch einer Buch-Publikation keine Notiz nehmen.

Auch die Bedeutung des corbusianischen Modulors, den irgendein subversiver DDR-Architekt in eine Betonwand geschnitten hat, werden die Bewohner kaum deuten können. Der Fotograf hat den Modulor gefunden und ihn auf der letzten Bildtafel publizieren lassen - ohne Ortsangabe. Damit hinterläßt das Buch eine letzte Rätselfrage zu diesem rätselhaften Stadtteil. Die "ausgedachte" Stadt ist noch lange nicht aus-gedacht.

Gerrit Engel
132 Seiten, 83 Farbtafeln
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 1999
ISBN: 3-88375-371-8


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