Zunächst fragt man sich natürlich, warum bei einem dreibändigen, chronologisch aufeinander aufbauenden Werk als erstes der Band 2 erscheint. Welche Gründe auch immer dafür verantwortlich sein mögen, es wirft ein irgendwie bezeichnendes Bild auf dieses Buch. Könnte es sein, dass die Zusammenhanglosigkeit hier symptomatisch ist?
Fangen wir anders herum an. Hier versucht jemand, der als langjähriger Berliner Landeskonservator von Sachverstand aus erster Hand geprägt ist, eine wahrhaft monumentale Aufgabe zu schultern: Eine dreibändige Baugeschichte von Berlin vom Barock bis zur Gegenwart (warum eigentlich nicht von der Stadtgründung im Mittelalter an?).
Der vorliegende Band 2 ist dabei für das zuständig, was der Volksmund als „Gründerzeit“ bezeichnet: die Jahre 1861 bis 1918, also vom Hobrecht-Plan, der die Stadtentwicklung bis (mindestens) zum ersten Weltkrieg festschrieb, bis zu eben jenem.
Eine spannende Phase, in der Berlin industrialisiert wurde, es seine Bevölkerungszahl explosionsartig erweiterte und in der eine solch unvorstellbare Masse an Bauvolumen geschaffen wurde, dass selbst nach Bombenkrieg und „Flächensanierung“ der bauliche Charakter Berlins, jedenfalls der Innenstadtbezirke innerhalb des S-Bahn-Rings, bis heute von den „Mietskasernen“ jener Epoche geprägt wird.
Aber, und hier haben wir ein recht treffendes Beispiel für einen Mangel des gesamten Werks, von der Mietskaserne lesen wir bei Engel nämlich nur wenig, und auch das Wenige ist noch auf mehrere Stellen im Buch verstreut. Ganze drei Seiten widmet er dem „innerstädtischen Mietwohnhaus“, und auf diesen Seiten geht es meist um kunstgeschichtliche Betrachtungen, welche Stile in welchen Phasen des Historismus an die Fassaden geklebt wurden. Wir lesen nichts über die dramatischen sozialen Spannungen in diesen Wohngebieten und kaum etwas über Raumaufteilung oder Grundrisstypologien dieser massenhaft errichteten, heute wieder so attraktiven Bauten. (Dass dann in einer Bildunterschrift die Yorckstraße mit nur einem einfachen „k“ Vorlieb nehmen musste, ist sicher nicht dem Autor anzulasten.)
So ist das ganze Buch aufgebaut: Kaum ist ein Thema eingeführt, ist es auch schon wieder zu Ende. Über Wassertürme haben wir drei Seiten, über Gasometer eine halbe. Kirchen kommen einmal unter Architekten vor, dann gibt es vier Seiten über den evangelischen Kirchenbau; katholische Kirchen kommen dagegen gar nicht vor, obwohl es sie unübersehbar aus dieser Epoche gibt. Selbst das so Stadtbild prägende Megathema der innerstädtischen (Kopf-)Bahnhöfe ist Engel lediglich zwei Seitchen wert. Immer wieder flieht er von den Schwarzbrotthemen dahin, wo er sich erkennbar wohler fühlt: zu „vornehmen Wohnhäusern“, zur „Nutzung und Möblierung der Villa“, zum „öffentlichen und privaten Prachtbau“ und zu „großbürgerlichen Wohnungen und Villen“. Die Auswahl der (meist zeitgenössischen, zuckerbäckrig-historistischen Abbildungen, die zum Teil reichlich düster und kontrastlos wiedergegeben werden) unterstreicht den Eindruck: Helmut Engel sieht im Berlin des 19. Jahrhunderts primär eine „schöne“ Stadt, die sich durch ihre „prächtigen“ Bauten definiert.
Wir können dieser Gewichtung nicht folgen, stellt sich uns das Berlin der Epoche doch hauptsächlich durch Industrialisierung und Massenwohnungsbau dar, dessen Bauten durch den großartigen Städtebau des Hobrecht-Plans ihr generös bemessenes urbanistisches Rückgrat erhalten (was Berlin bis heute einmalig unter den deutschen Städten macht). Immerhin referiert Engel die politische Entstehungsgeschichte dieses Plans, allerdings ohne seine Wirkung zu benennen.
Eine Stärke des Bandes sei zum Schluss nicht verschwiegen: Die Überwindung des Historismus durch die „Neuen“ (Muthesius, Messel,...) und dann durch die „Ablösung“ (Behrens, Taut...) wird am Ende des Buches recht anschaulich referiert. Bruno Tauts Gartenstadt Falkenberg von 1913, das letzte besprochene Objekt, weist direkt in das Herz von Band 3. Wir sind gespannt, welcher der noch ausstehenden beiden Bände als nächstes erscheint.
(Benedikt Hotze)
Helmut Engel
392 Seiten mit 716 s/w-Abbildungen, Leinen mit Schutzumschlag, 68 Euro
Jovis, Berlin, 2004
ISBN: 3-936314-16-0