Von Daniel Felgendreher
Die Conjunto Nacional-Shoppingmall in São Paulo und die Berliner Landsberger Allee, die Kowloon Walled City in Hongkong und die Alexanderstraße in Berlin, das Geneva Camp in Dhaka und der Berliner Moritzplatz. Oberflächlich betrachtet haben diese urbanen Strukturen nicht viel gemeinsam. Sie liegen tausende Kilometer voneinander entfernt, haben unterschiedliche kulturelle, politische, klimatische Entstehungskontexte und unterscheiden sich zu dem typologisch und programmatisch.
Bildet man sie – im Stil eines Atelier Bow Wow – in detaillierten, klaren Axonometrien ab, scheinen sich die Orte nicht mehr so fremd. Im Medium der Zeichnung und mit Hilfe von Abstraktion lassen sich die Projekte in der Ferne und die Stadträume in Berlin von ihren spezifischen Kontexten lösen und auf eine strukturelle oder atmosphärische Essenz herunterbrechen. Erstaunlicherweise lassen sich die Referenzprojekte so fast mühelos auf die Orte in Berlin übertragen.
Diese Art der Zeichnung ist das bevorzugte Analysewerkzeug der von Rainer Hehl und Ludwig Engel konzipierten Publikation: „Berlin Transfer – Learning from the Global South“. Das bei Ruby Press erschienene Buch dokumentiert Arbeiten, die im Rahmen der Master-Entwurfsstudios „The City Within The Building“ und „Urban Village“ (2013–2014) unter der Leitung des Gastprofessors Hehl am ADIP-Lehrstuhl (Architecture Design Innovation Program) der Technischen Universität Berlin entwickelt wurden.
Die detaillierte Kartierung der Orte schafft eine Objektivierung der gewählten städtebaulichen Phänomene. Und sie dient als Voraussetzung für einen Transfer: Projektvorschläge für Berlin, die sich nicht aus einem europäischen oder angloamerikanischen Architekturdiskurs speisen, sondern informelle Entwicklungen in Städten der südlichen Hemisphäre als Referenz heranziehen. Dafür adaptieren die Studenten entweder konkrete räumliche und morphologische Prinzipien der Referenzprojekte oder schöpfen Inspiration aus deren programmatischen und performativen Qualitäten. Anschließend projizieren sie sie auf bestimmte Grundstücke in Berlin und implementieren dabei soziale und kulturelle Eigenheiten des lokalen Kontexts.
Vernakuläre oder geplante, aber dann in unerwarteter Weise angeeignete urbane Strukturen als Analyse- und Referenzobjekte sind im westlichen Diskurs zum Bottom-up-Städtebau nicht neu. An sie wird oft die Hoffnung auf alternative Städtebau-Ideen an Stelle der hiesigen überkommenen Modellen geknüpft. Fasziniert blickt man beispielsweise auf extrem urbane, dichte, funktionierende, in Selbstorganisation entstandene Orte in, sagen wir, indischen Megastädten und sieht dann extrem tote, dysfunktionale, generische Top-down-Projekte mit verstaubten städtebaulichen Ideen im Kontext deutscher Großstädte. Das Zelebrieren des Informellen birgt natürlich die Gefahr eines gewissen Planungspessimismus und einer Favela-Romantisierung. Das Geneva Camp in Dhaka mag beispielsweise Potentiale aufzeigen, wie Flüchtlinge in eine existierende urbane Struktur integriert werden könnten. Es ist aber auch ein überfüllter, unterentwickelter Slum, in dessen Häusern sich bis zu zehn Leute ein Zimmer und bis zu 90 Familien eine Toilette teilen.
Das Anschlussseminar: „Extraspacecraft“ (2014–2015) lieferte das Material für das zweite Buch: „Hybrid Modernities“. Anhand von im Modell nachgebauten Innenraumaufnahmen wird ein ähnlicher Ideentransfer zwischen den acht Referenz-Wohnprojekten der brasilianischen Nachkriegsmoderne und den acht ausgewählten Berliner Orten versucht.
Berlin Transfer propagiert darüberhinaus aber eine Haltung, die letztendlich auch diese westliche Brille hinterfragt. Es wird gefragt, wie Wissen über Urbanisierung zukünftig produziert wird. Durch die Reversion des ursprünglichen Wissenstransfers, der seit Kolonialzeiten traditionell von der Nord- zur Südhalbkugel erfolgt, hat „Learning from the global South“ natürlich auch eine politische Tragweite. In Kontinuität eines Venturi und Scott Brownschen „Learning from“- Ansatzes wird der Blick auf die südliche Hemisphäre – wo starke urbane Transformationen im vollen Gange sind – gerichtet und behauptet, dass wir in diesen Urbanisierungsprozessen des globalen Südens nach Potentialen für die Stadtentwicklung Berlins suchen sollen.
Berlin Transfer – Learning from the Global South
Berlin Transfer – Hybrid Modernities
Herausgegeben von Rainer Hehl und Ludwig Engel, 2015
Paperback, 160 Seiten
Englisch, je 24 Euro
ruby-press.com