Von Stephan Becker
Es ist eine geheimnisvolle Struktur, die sich da im venezianischen Stadtteil Castello zwischen den kleinteiligen Altbauten versteckt: mal glatt und mal abweisend, mal kantig und mal brüchig, mal schmal und mal breit, je nach Perspektive. Viele Biennale-Besucher kennen das Gebäude vielleicht sogar vom Sehen, schließlich befindet es sich auf dem Weg vom Arsenale zu den Giardini. Nur was seine Funktion ist, erschließt sich nicht ohne weiteres, denn seine Türen sind meist fest verschlossen.
Nun offenbart der kristalline Block allerdings sein Innenleben – als einer der interessantesten Länderbeiträge der diesjährigen Ausstellung. Hier präsentieren sich mit einem gemeinsamen Pavillon die drei Ostsee-Anrainer Estland, Lettland und Litauen. Als „Baltic Pavillon“ bezeichnen sie ihr Projekt, das mit seinem Idealismus gut zum brutalistischen Betonklotz passt. Der wiederum entpuppt sich als äußerst beeindruckende brutalistische Sporthalle: Palasport „Giobatta Gianquinto“ nennt sich das Gebäude, das 1977 von Enrichetto Capuzzo errichtet wurde.
Die fast schon utopische Dimension des baltischen Pavillons besteht nicht zuletzt darin, dass die Initiatoren mit ihrem Konzept nicht nur eine, sondern drei nationale Jurys überzeugen mussten. So mutig wie ihr Vorhaben, so großmaßstäblich ist allerdings auch der Fokus der Ausstellungsmacher: Sie untersuchen jene infrastrukturellen Kräfte, räumliche Praktiken und ökonomische Faktoren, die die ganze Region verändern. Verantwortlich waren neben den Kommissaren Raul Järg, Jānis Dripe und Ona Lozuraitytė die Kuratoren Kārlis Bērziņš, Jurga Daubaraitė, Petras Išora, Ona Lozuraitytė, Niklāvs Paegle, Dagnija Smilga, Johan Tali, Laila Zariņa und Jonas Žukauskas.
Die Halle des Palasport mit ihren steilen Tribünen und dem sanften Oberlicht bietet hierfür das perfekte Setting – die Härte der Konstruktion mischt sich mit einer leicht traumwandlerische Atmosphäre unter hellen Stoffbahnen. Zwischen konkreten Projekten und abstrakten Ideen unterscheiden die Ausstellungsmacher nämlich nicht, hier verschwimmt alles zu einem Kontinuum und man darf als Besucher nach Belieben die Treppen hinauf- und hinunterwandeln – oder sich einfach nur auf den Tribünen niederlassen, um im Innenraum den Ausblick zu genießen.
The Baltic Atlas
Anlässlich der Biennale erscheint außerdem „The Baltic Atlas“, der nicht einfach nur als Katalog fungiert, sondern die Ideen der Ausstellung in Buchform aufgreift. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn geboten wird hier keine überbordende Projektschau, sondern eine fundierte Textsammlung, die praktisch ohne Bilder auskommt – erfrischend, den hier verfliegen die Ideen nicht beim schnellen Durchblättern, sondern sie entfalten sich beim aufmerksamen Lesen. Das sorgt für Tiefe. Insbesondere hinsichtlich der Textgattungen setzen die Autoren dabei eigene Schwerpunkte: Wissenschaftliche Abhandlungen treffen auf manifestartige Ausblicke, die wiederum von düsteren Kurzgeschichten oder historischen Betrachtungen abgelöst werden.
Oft überlagern sich die Ebenen auch, wie in „Druzhba“ von Nomeda und Gediminas Urbonas, die sich mit den Psychogeographien beschäftigen, die durch die gleichnamige transsowjetische Pipeline entstanden sind. Indrek Allmann scheint wiederum auf dieses historische Projekt zu antworten, wenn er die Idee eines Eisenbahntunnels zwischen Tallin und Helsinki durchspielt, um die Motivationen hinter großen Infrastrukturprojekten zu hinterfragen. Besonders spannend wird es immer dann, wenn sich Persönliches und Historisches mischt, wie im Beitrag des jungen Filmemachers Karolis Kaupinis. Der erinnert sich an einige prägende Häuser seiner Vergangenheit und ganz nebenbei lernt man, wie sich geopolitische Veränderungen auch in unsere alltäglichen Räume einschreiben.
Ein ebenso naheliegendes wie wichtiges Symbol für das Vorhaben, das implizit auch der Pavillon vertritt, findet sich bei Jānis Ušča. Er schlägt vor, die Ostsee endlich als das zu sehen, was sie räumlich ohnehin ist: ein verbindendes Element, das nicht nur trennt, sondern die Länder auch wieder näher zusammenbringen könnte. Er wünscht sich, dass die Anrainerstaaten das Wasser endlich als eine gemeinsame Ressource begreifen, auf deren Grundlage eine neue kollektive Vision entstehen kann – was ein wichtiges Zeichen setzt in diesen Zeiten der Uneinigkeit.
The Baltic Atlas
Hrsg. von Kārlis Berziņš, Jurga Daubaraitė, Petras Išora, Ona Lozuraitytė, Niklāvs Paegle, Dagnija Smilga, Johan Tali, Laila Zariņa und Jonas Žukauskas
Sternberg Press, 2016
336 Seiten, Hardcover
www.sternberg-press.com
Der Baltische Pavillon ist noch bis Anfang September in der großen Halle des Palasport zu sehen. Danach zieht die Ausstellung innerhalb des Gebäudes in eine kleinere Nebenhalle um – dann beginnt die reguläre Sportsaison.
www.balticpavilion.eu
Fotos: David Grandorge
Zum Thema:
Mehr zu Architekturbiennale auch in der Baunetzwoche#454: Reporting from Venice und unter www.baunetz.de/biennale/2016
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