Von Annika Wind
An Vorhänge mit Südseefischen hatte Kisho Kurokawa wohl nicht gedacht. Die minimalistischen Wohnkapseln in seinem Nakagin-Turm in Tokio waren schließlich fix und fertig eingerichtet, als er sie 1972 übergab. Was hatte also der Kitsch eines knallbunten Korallenriffs auf Frottee in seiner Architekturikone zu suchen? Es ist unwahrscheinlich, dass dem Meister des Metabolismus solche Gedanken durch den Kopf gingen. Gegen individuelle Veränderungen in seinen 140 Wohneinheiten hatte der japanische Architekt ja grundsätzlich nichts einzuwenden. Aber ein Bildband im Kehrer Verlag zeigt, was aus manchen seiner einst visionären Wohnkapseln wurde: vollgestellte Einheiten, in denen sich Staubsauger, Ventilatoren und schmutzige Wäsche türmen. Büroräume voller Webcams, Post-its und überquellender Papierkörbe. Oder Schlafzimmer mit billigen Kunstdrucken und dem Charme eines kalten Stundenhotels.
Noritaka Minami hat vier Jahre lang den weltweit ersten Wohnkomplex mit beweglichen Kapseleinheiten fotografiert, der 1972 als Ausdruck eines neuen Architekturverständnisses gebaut wurde. Die Grundidee: Metabolistische Bauten sollten als „urbane Organismen“ schrumpfen oder wachsen können. Ein Mann findet eine Frau in seiner unmittelbaren Nachbarschaft? Kein Problem – mit jedem Kind hätte, so die Idee, das Paar einfach nur ein paar weitere Wohnkapseln dazumieten müssen. „Wir müssen Häuser auf eine besondere Weise gleich machen, nämlich so, dass jedermann seine eigene Interpretation innerhalb der kollektiven Stadt verwirklichen kann“, so hatte 1963 der niederländische Architekt Herman Hertzberger seine Vorstellungen neuer Wohn- und Arbeitsräume beschrieben, ein Vertreter des mit dem Metabolismus verwandten Strukturalismus. Daher hatte Kurokawa industriell gefertigte, 2,30 mal 3,80 mal 2,1 Meter kleine Module entworfen, die man um zwei vertikale Kernbauten immer wieder neu ausrichten oder – so die Theorie – beliebig in den Stadtraum erweitern kann. Praktisch passiert ist das nie, die Anordnung der Kapseln wurde nie verändert. Dafür wurde aber sonst einiges aus der Inneneinrichtung herausgerissen, neu eingebaut, kaputt saniert oder vernachlässigt.
Interessant ist, dass Minami keine Bewohner zeigt. Stattdessen hat er ihre Wohnräume als Stellvertreter fotografiert. Frontal, meist auf das einzige Fenster der Kapseln ausgerichtet, erforscht er die Wohneinheiten mit nüchternem Blick. Und legt offen, wie die Menschen ihren Turm mit Alltagsgegenständen füllen und gestalten. „Die Kapsel ist eine Raumeinheit, die absolute Privatheit garantiert“, hatte Kurokawa 1972 geschrieben. Das ist heute auch ein Problem: Denn die einzigen Räume zum Austausch sind die schmalen Flure. Überhaupt verstand Kurokawa die „Privatheit“ in den Modulen als Chance – die Bewohner seien in ihnen sicher vor „Informationen, die sie nicht haben wollten“. Ein Bedürfnis, der sich im Zeitalter von W-LAN und Smartphones längst überholt hat. Und der traurigen Erkenntnis gewichen ist, dass man Privatheit in Megacities wie Tokio heute eher mit Isolation gleichsetzen müsste.
Minamis Bilder legen auch den schlechten Zustand des Turms offen: Asbestbelastung, feuchte Wände und undichte Wasserleitungen gehören zum Alltag – bereits 2008 hatte die Eigentümergemeinschaft daher für einen Neubau gestimmt. Die Architekturikone, die von den Visionen einer neuen Stadtgesellschaft erzählt, ist bedroht. Viele Wünsche und Vorstellungen von einst haben sich nicht erfüllt oder bewahrheitet. Vielleicht wirkt dieser Turm inmitten von Wolkenkratzern gerade deshalb so aus der Zeit gefallen. Und als Relikt vergangener Zukunftsvorstellungen, in dessen Inneren die Bewohner gegen die Einförmigkeit revoltieren, so erhaltenswert.
Noritaka Minami: 1972
mit englischen Texten von Noritaka Minami, Julian Rose und Ken Yoshida
Kehrer Verlag, 2015
Hardcover, 100 Seiten
34,90 Euro
www.artbooksheidelberg.de