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20.10.2015

Tobias Engelschall: Zustände

Bücher im BauNetz


Von Jasmin Jouhar

Eines der bemerkenswertesten Berlin-Architektur-Bücher dieses Herbstes findet man nicht im Programm der einschlägigen Fachverlage. Tobias Engelschalls „Zustände. Eine Topografie architektonischer Transformationen in Berlin“ ist kürzlich beim kleinen Berliner Künstlerbücher-Verlag mit dem sperrigen Namen Bom Dia Boa Tarde Boa Noite erschienen. Und Sperrigkeit darf man hier durchaus als programmatisch annehmen, sowohl für den Verlag als auch für das Buch. „Zustände“ ist zwar aus den Recherchen für ein längst verworfenes Architekturführer-Projekt hervorgegangen, es verweigert sich aber konsequent allen Erwartungen, die mit diesem Genre verbunden sein mögen. Dafür öffnet es die Augen für die permanent wirksamen Veränderungsprozesse im Stadtbild und zeigt ein längst vergessenes Gesicht Berlins.

Tobias Engelschall, Architekt und Wahl-Berliner seit den achtziger Jahren, hat für sein Buch hundert Häuser aus dem 19. und 20. Jahrhundert ausgewählt und zeigt von jedem Beispiel zwei, in einigen Fällen drei historische Zustände. Jedes Haus hat eine eigene Doppelseite bekommen, links finden sich Adresse, Datierung der jeweiligen Zustände und – soweit bekannt – Architekt und Bauherr. Auf der rechten Seite die Nutzung und die Abbildungen, alles Außenaufnahmen in Schwarz-Weiß und ziemlich knapp beschnitten. Im Anschluss an den Hauptteil folgt ein Anmerkungsteil mit kurzen Kommentaren zu jedem Haus. Das war’s. Alles andere findet im Kopf des Lesers statt, der sich ärgern mag über kupierte Dächer, verlustig gegangenen Fassadenschmuck und vollends aus der Form geratene Baukörper. Oder sich freut, dass manches Haus über die Zeit an Klarheit und Seriosität gewonnen hat – ob als völliger Neubau, ob als Um- oder Wiederaufbau. Auf jeden Fall dürfen wir uns wundern, was ein Haus so alles aushält.

Zweifellos passt Engelschalls Transformations-Topografie gut zum Programm des Künstlerbuch-Verlags, weil er sein Thema mit dem Blick und den Methoden des Künstlers untersucht. Das Buch ist stark konzeptuell gedacht, streng in der Form und die Auswahl selbstverständlich völlig subjektiv. Anders als in einem Architekturführer oder einer Baugeschichte kümmert sich Engelschall nicht um Fragen der Vollständigkeit oder des Kanons. Es sind ein paar erklärte Lieblinge drin, ansonsten geht es einmal querbeet, mit vielen No-Names. Seine Auswahlkriterien macht er nicht transparent. „Ich habe versucht, Beispiele zu finden, bei denen der zweite Zustand genauso spannend ist wie der erste“, sagt der Autor. Er hält uns zudem gattungstypische Informationen wie Architektenbiografien, Pläne, Innenansichten oder Beschreibungen vor. Es ist kein Gebrauchsbuch. Und zumindest im Hauptteil gibt er auch keine Wertung vor. So lenkt nichts ab vom Vergleichen der Zustände – und davon, uns selbst eine Meinung über ihren Wert zu bilden.

Die reduzierte Aufmachung des Buchs ist hochgradig stilisiert – hin auf eine What-you-see-is what-you-get-Sachlichkeit, die an frühe Künstlerbücher des Amerikaners Ed Ruscha erinnert oder an die Bücher des deutschen Künstlers Hans-Peter Feldmann. Außerdem spielt der Band (Grafik: Benedikt Reichenbach) mit der Ästhetik topografischer Führer. Vorbild: Tobias Engelschalls „Kinderbibel“, wie der gebürtige Hamburger die „Kunst-Topographie von Schleswig-Holstein“ nennt. „Als Kind bin ich mit meiner Tante im Auto rumgefahren, ich hatte das Buch auf dem Schoß, und wir haben Kirchen und Schlösser besichtigt.“ Die altmodische Schrift, der Einband, die Prägung, die blaue Farbe des Schutzumschlags: alles eine Referenz auf die „Kinderbibel“.

Hinter dem so schlicht und einfach aussehenden Buch stecken allerdings ein immenses Wissen und eine große Anstrengung. Mit den ersten Recherchen begann Tobias Engelschall vor mehr als acht Jahren. Viel Zeit verbrachte er in Archiven, um alte Architekturzeitschriften wie „Wasmuths Monatshefte“ und „Berliner Architekturwelt“ durchzuarbeiten oder Bildersammlungen zu sichten. Das Berliner Baugeschehen etwa der Gründerzeit ist besonders gut dokumentiert. Allerdings: „Diese Gebäude sind zu 98 Prozent seit damals nie wieder publiziert worden“, sagt Engelschall. „Da sind mir eine ganze Menge Häuser entgegengekommen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte.“ Das Ergebnis dieser Recherche waren schließlich rund 600 Objekte, die er zunächst mit Streetview auf ihren heutigen Zustand überprüfte. Anschließend besuchte und fotografierte er die interessantesten. Darunter viele Entdeckungen, die selbst Berlin-Experten überraschen dürften.

Eine große Leistung des Buchs: Es stellen sich keine Nostalgiegefühle ein, man sehnt sich nicht in die gute alte Zeit zurück. Engelschall zeigt die Gebäude isoliert von ihrem Umfeld, es gibt nichts Malerisches, keine belebten Straßen oder reizenden Plätze mit Brunnen und Bäumen. Er steht zur Gegenwart. Auch wenn das Urteil in den Anmerkungen gelegentlich scharf ausfällt („formal kleinlicher Klassizismus“, „eine gebaute Ruine, eine Folly“, „Regression in deutsche Gemütlichkeit“), so hält man die Beschädigungen, Verluste und radikalen Brüche aus, die das Buch dokumentiert. Denn es öffnet die Augen für die ständig ablaufenden Veränderungsprozesse, die man meist jedoch gar nicht oder nur als Resultat wahrnimmt. Ein längst verlorengegangenes Gesicht von Berlin wird wieder sichtbar und erinnert uns daran, dass auch die Gegenwart lediglich eine Momentaufnahme ist. Was bleibt, weiß nur die Zukunft.

Tobias Engelschall: Zustände
Eine Topografie architektonischer Transformationen in Berlin

Gestaltung: Benedikt Reichenbach
Verlag Bom Dia Boa Tarde Boa Noite, Berlin Oktober 2015
Hardcover, 236 Seiten, Deutsch, Englisch
26 Euro

www.bomdiabooks.de


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