Von Sophie Jung
Realität interessierte die Debatten der Postmoderne nicht. Da ging es eher um das Virtuelle, das Scheinhafte, vielleicht auch um Glaube. Mittlerweile ist die Realität wieder relevant: Terrorismus, Finanzkrise, Naturkatastrophen haben ein neues Bewusstsein für sie geschaffen.
Das ETH Studio Basel, 1999 von Roger Diener, Jacques Herzog, Peter Meili und Pierre de Meuron gegründet, gibt zu diesem Thema jetzt ein Buch heraus. „The Inevitable Specificity of Cities“ untersucht die Realität der Städte. Bereits der Titel ist ein deutliches Statement: Städte sind spezifisch, sie folgen nicht, wie in den Neunzigern so gerne beschrieben, einer allgemeinen Entwicklung hin zu einem universalen Gebilde. Was aber alle Städte teilen, dessen sind sich die sieben Autoren des Buches einig, lässt sich mit drei beeinflussenden Faktoren definieren: Territorium, Macht und Gegensätze.
Die Spezifizität einer Stadt erwächst aus einem Zusammenspiel dieser drei Faktoren – oder besser „Vektoren“, wie Jacques Herzog sie eingangs in seinem Essay bezeichnet. Mit ihrem „Drei-Vektoren-Konzept“ ist dem ETH Studio Basel ein klares Beobachtungsmodell gelungen, mit dem die reale Komplexität von Städten betrachtet und verglichen werden kann.
Acht Städte stellt die Publikation vor – von Neapel über Hongkong nach Nairobi. Erfasst werden sie jeweils über einen der drei Richtungsweiser. Das Nildelta in Ägypten etwa oder Belgrad werden entlang des Faktors „Territorium“ beschrieben. Fruchtbares Land, Wüste und urbane Ballung machen diese Geografie Ägyptens aus. In Neapel ist es der Vesuv, der die Entwicklung der Stadt bis zu seinem letzten Ausbruch 1944 stets limitiert hat.
Die serbische Hauptstadt Belgrad hingegen wurde von ihren Regierungen geprägt. Sie wird unter der Kategorie „Macht“ beschrieben. Ebenso wie Kenias Hauptstadt Nairobi, die durch ihre enorme Emigration von ganz eigenen Hoheitsstrukturen geprägt ist. Das Viertel Eastleigh etwa ist eine somalische Mikrostadt innerhalb der kenianischen. Hongkongs jüngere Siedlungsgeschichte wiederum ist von einer starken Regulierung durch die Politik gezeichnet, zunächst unter britischer Herrschaft, heute unter der chinesischen Regierung.
Den Begriff der „Gegensätze“ haben die Herausgeber am weitesten gedehnt: Auf den Kanarischen Inseln machen sie dieses Phänomen in dem Kontrast zwischen ursprünglicher Landwirtschaft und dem heutigen Massentourismus aus. In Beirut findet man die Gegensätze in der historischen Multiethnizität der Stadt. In Casablanca verankert Autor Mathias Gunz diesen Vektor an einem Gegenspiel zwischen der Dominanz der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und ihrer Aushöhlung durch die ansässige Bevölkerung. Das bekannte Carrières Centrales, eine von den Franzosen errichtete Siedlung aus den Fünfzigern, ist ein Beispiel dafür, wie diese europäische Architektur heute von den Einheimischen umgenutzt, geändert und umgebaut wird.
Weder Stadt-Romantik noch verklärter Kontextualismus, auch keine großen Theorien über die globale Stadt verkündet das ETH Studio Basel mit dieser Publikation. „The Inevitable Specificity of Cities“ ist Teil einer mittlerweile um sich greifenden Abkehr von der Postmoderne. Dieser neue Realismus versucht sich auf das Spezifische zu beziehen. Das gelingt auch dem ETH Studio Basel. Mit seinem Drei-Vektoren-Konzept und den untersuchten acht Städten baut es die Wirklichkeit aus vielen kleinen Realitäten zusammen.
The Inevitable Specificity of Cities
Case studies for Napoli, Nile Valley, Belgrade, Nairobi, Hong Kong, Canary Islands, Beirut, and Casblanca
Herausgegeben von ETH Studio Basel
Mit Beiträgen von Roger Diener, Mathias Gunz, Manuel Herz, Jacques Herzog, Rolf Jenni, Marcel Meili, Shadi Rahbaran, Christian Schmid, Milica Topalovic
Lars Müller Publishers, 2015
Hardcover, 320 Seiten, ca. 300 Abbildungen, Englisch
50 Euro
Zum Thema:
www.lars-mueller-publishers.com
www.studio-basel.com