Ohne Theorie geht es nicht in der Architektur. Jede Entscheidung im Plan setzt eine Überlegung voraus, warum eine Wand oder ein Fenster genau so und nicht anders sein soll. Und hierfür greifen Architekten auf Vorstellungen zurück, die oft einen sehr subjektiven und vor allem unbewussten Charakter haben. Denn nicht alles ist große Theorie, oft steckt sie auch im Kleinen, in beiläufigen Bemerkungen wie der, dass man etwas eben so mache. „Architekturwissen“ nennen das Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer, die Herausgeber einer gleichnamigen, zwei Bände umfassenden Anthologie.
Statt eigene Theorie zu produzieren, möchten sie mit ihrer Sammlung von über sechzig Grundlagentexten den Begriffen und Ideen, mit denen Architekten täglich arbeiten, eine breitere kulturwissenschaftliche Grundlage geben. Für welche „kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge“ steht der Strich auf dem Papier, so könnte man die Fragestellung der beiden Bände benennen.
Die Herausgeber vertreten damit einen Architekturbegriff, der weit über das Bauen hinaus das Gesellschaftliche betont, dem es aber gerade deshalb gelingt, Architektur in ihrer Materialität sehr ernst zu nehmen. So untersucht der erste Band unter dem Titel „Ästhetik des sozialen Raums“ das unmittelbare Verhältnis des Menschen zu seiner gebauten Umwelt. Um Architektur als Kunst geht es, um die Geschichte der Sinne, um Körper und Leib, um Wahrnehmung und Lesbarkeit bis hin zu Atmosphären und Situationen.
Um Wissen also, das nicht nur im Entwerfen eine Rolle spielt, sondern auch bei der konstruktiven Durcharbeitung eines Details. Hierauf aufbauend ist der zweite Band der „Logistik des sozialen Raums“ gewidmet, also der Feststellung, dass Architektur immer auch dazu dient, Bewegung zu organisieren. Und damit kommen die gesellschaftlichen Verhältnisse ins Spiel, werden Orte und Identitäten, Grenzen, Wege und Kanäle oder Formen der Verwertung diskutiert – bis hin zu der Frage, welche Rolle die Architekten selbst in alledem spielen.
Die Texte sind zwischen 1893 und 2005 erschienen und stammen von bekannten Autoren wie Adorno, McLuhan oder Venturi und Scott Brown. Verstünde man sie als Pflichtlektüre und jederzeit abzurufender Kanon, könnten sie leicht als Überforderung erscheinen. Zumal es zwar zu jedem der zwölf Kapitel eine prägnante Einführung gibt, sich die Texte aber, mit ihrer Herkunft aus Philosophie, Kunstgeschichte, Ethnologie oder Ökonomie, naturgemäß nur sehr frei auf Architektur beziehen.
Lieber sollte man darum den Herausgebern folgen und die hier versammelten Ideen als Werkzeuge begreifen, mit denen das Nachdenken über Architektur erleichtert und fundiert werden soll. Womit es auch legitim ist, sich den Texten so zu nähern, wie es Architekten schon immer mit fachfremder Theorie gehalten haben. Nämlich diese zunächst mal als Inspirationsquelle zu nutzen, die der eigenen Arbeit mehr Tiefe verleiht, die damit aber durchaus auch auf dem Nachttisch ihren Platz haben kann. Denn dank der ausgezeichneten Strukturierung der Bände ist beides möglich, das leichte Lesen und die vertiefende wissenschaftliche Auseinandersetzung.
(Stephan Becker)Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften
Susanne Hauser, Christa Kamleithner, Roland Meyer (Hg.)
transcript Verlag, 2011 (Bd. 1), 2013 (Bd. 2)
Band 1: Zur Ästhetik des sozialen Raumes, 366 Seiten, 24,80 Euro
Band 2: Zur Logistik des sozialen Raumes, 448 Seiten, 27,80 Euro www.transcript-verlag.de