Nur wenige können Architektur so beschreiben wie er. Ernst Augustin hatte schon immer eine berauschende Art Geschichten zu erzählen, und mit „Robinsons Blaues Haus“ ist ihm ein fantastisches Meisterwerk gelungen. Man stelle sich vor, der Erzähler ist auf einer nie enden wollenden Flucht: immer in Gefahr, von seinen gesichtslosen Verfolgern gestellt zu werden, immer auf der Hut, nicht entdeckt zu werden – ein ewig reisender, rastloser Mann, ein Robinson der heutigen Zeit, der Zuflucht und in seinen zahlreichen Verstecken. Doch soll diese immer nur von kurzer Dauer sein.
Seine Höhlen und Schlupflöcher sehen immer gleich aus, befinden sich aber an unterschiedlichsten Orten: Es ist ein winziger Raum, drei mal drei Meter, eine Art Abstellkammer in brachliegenden Büro- und Verwaltungstrakten oder vergessenen Quartieren, den sich der Flüchtende kauft (es mangelt ihm an Freiheit, aber nicht an Geld) und ganz nach seinem Geschmack ausstattet: Wärme, Ruhe, „teefarbene Beleuchtung, das Bernsteinlämpchen“ und ein zimtartiger Geruch, der vom kostbaren Dengue-Holz herrührt. Der „sanfte Glenfiddich in einer Glaskaraffe“ darf nie fehlen, und wenn Robinson sein Versteck betritt, ertönt eine leise Musik aus „Hotel Costes“, ein „schwer zu beschreibender, braunsamtener Tango“.
Kaum ist er da, muss er schon wieder weg, denn über allem schwebt die „virtuelle Realität des Finanzwesens": Was du hast, hat dich. Augustin erzählt in seinem neuen Roman, der unlängst für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, eine besondere Lebensgeschichte. Im Alter von elf bis zwölf Jahren wird der Erzähler von seinem Vater beiseite genommen: „Er werde entdecken, dass er allein sei, dass er sich auf einer Insel befinde. Dieses Robinson-Bild beherrscht den Roman von der ersten bis zur letzten Seite. Die Worte des Vaters werden zur Grundlage luftiger Phantasiegemälde: Der Sohn sei ständig „inmitten eines Ozeans von Menschen über Menschen, die alle laut reden und alle etwas anderes meinen. Die ihre Seele daransetzen werden, dich von dieser Insel zu vertreiben.“ Die Beschreibungen, die der 85-jährige Autor findet, der während der Arbeit an diesem Buch sein Augenlicht verlor, glänzen in unzählbaren vierdimensionalen Schattierungen, das Farbspektrum kann man riechen: Man liest von Flaschengrün, Nachtfalterblau oder Lilienweiß, mahagoni-, kupfer- oder teefarbenen Wandverkleidungen und perlgrauem Glas. Der Erzähler flutet eine Kirche, bewohnt einen Tresor im Treppenhaus einer alten Bahnmeisterei und taucht in einer rostenden Glocke vor seinen Feinden unter. Einer der Höhepunkte spielt in New York, als der Erzähler auf seinen Architekten trifft, der ihm ein fünf der oberen Geschosse des Wyman Tower in ein gemütliches Zuhause umbauen soll. „Nun war er doch beleidigt“, fasst der Erzähler die Besprechung mit dem Architekten zusammen. „Der Mann war Purist, ohne Frage, ich habe den Eindruck, am liebsten würde er einen fünfstockwerkhohen Würfel aus massivem Garnichts aufsetzen, möglichst farblos. Um ihn dann als bewohnbar zu erklären. Aber er wäre ja bereit zu Kompromissen.“ Ernst Augustin wollte selbst einmal Architekt werden.
Selbstredend darf in diesem modernen Robinson-Roman auch die Figur des Freitag nicht fehlen, doch soll dieser, der mit seinem Robinson chattet und mailt, am Ende zum Verhängnis werden – soviel darf gesagt werden. (jk)
Robinsons blaues Haus
Ernst Augustin
C.H. Beck Verlag
München 2012
Hardcover, 330 Seiten
19,95 Euro