Eine fulminante Ausstellung war das in München, und der achthundertseitige Katalog verdient auch kaum ein anderes Adjektiv. Winfried Nerdinger hat sich nach über dreißig Jahren von der Institution verabschiedet, die er entscheidend geprägt und groß gemacht hat: das Architekturmuseum der TU München. Bei Nerdingers Amtsantritt war es kaum mehr als eine Abstellkammer für Planrollen, heute ist es eine der wichtigsten Institutionen der Architekturvermittlung im deutschsprachigen Raum.
Die Ausstellung, die den Schlussakkord hinter Nerdingers Amtszeit setzte, beschäftigte sich schlicht mit dem Berufsstand, um den es hier geht: „Der Architekt“ ist in erhabener Schlichtheit der Titel des Exposition wie des Katalogs. Wer die Ausstellung in der Pinakothek der Moderne, dem festen Ort des Architekturmuseums, gesehen hatte, kam angeregt, ja beeindruckt aus München zurück. In drei Räumen ging es um den Wandel des Berufsstands, um die Werkzeuge der Architekten und schließlich um Architektur und Musik, Bühne, Film.
Der Katalog liefert den theoretischen Unterbau dazu. So soll es sein. Nerdinger beginnt in seiner Einleitung mit einer kalkuliert gesetzten Publikumsbeschimpfung. „Architekten? Alles Schwachköpfe“ lässt er Gustave Flaubert sagen. Literaten übernehmen dann von Adolf Loos die Formel „Alle Architekten sind Verbrecher“. Und Frank Lloyd Wright hielt seine Kollegen Gropius und Mies van der Rohe für „europäische Nichtskönner“. Der Architekt, so scheint es, soll erst einmal in Demut geerdet werden, bevor es losgeht mit dem Panoptikum über diesen Berufsstand.
Der zweibändige Katalog war ursprünglich als Lexikon angelegt, bis der Herausgeber feststellen musste, dass eine enzyklopädische Vollständigkeit weder zu leisten noch erstrebenswert ist. Aus dieser ursprünglichen Konzeption heraus prägt dennoch ein lexikalischer Aufbau das Buch: Im ersten Band geht es um Architekten in Geschichtsepochen und Ländern – von Mesopotamien bis Nordamerika. Im zweiten Band drehen sich die Aufsätze um berufsständische Fragen, um Werkzeuge der Architekten bis hin zur näheren Betrachtung bestimmter Untergruppen des Berufsstands. Dabei werden Architektinnen im 20. Jahrhundert ebenso fokussiert wie Architekten im (politischen) Widerstand oder zu guter Letzt der Garten- und Landschaftsarchitekt in Deutschland seit 1800. Das ist alles von einschlägigen Autoren plausibel geschrieben und auch ohne ein wissenschaftliches Interesse gut lesbar, wenn auch das enzyklopädische Vollständigkeitsstreben etwas zu präsent erscheint in seinem proporzhaften Versuch, möglichst niemanden und nichts durch Weglassen zu düpieren. Aber das ist nun einmal das Wesen eines Standardwerks – und genau ein solches ist Winfried Nerdinger und seinem Team gelungen. (-tze)
Der Architekt – Geschichte und
Gegenwart eines Berufsstandes
Hrsg. von Winfried Nerdinger
Prestel, München 2012
Zwei Bände im Schmuckschuber
816 Seiten, 422 farbige Abbildungen
283 s/w-Abbildungen
98 Euro
Zum Thema:
www.randomhouse.de