7875 Woodrow Wilson Drive, Hollywood Hills, Shulman House (Raphael Soriano, 1950). Es dauert ungefähr bis zur Hälfte des Buchs, bis der Autor Kevin Vennemann, eigentlich Westfale, aber in New York lebend, im Mai 2008 dort tatsächlich ankommt. Er nähert sich über weite Schleifen, denn sein Thema ist das Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles, so der Untertitel des Buchs Sunset Boulevard. Und das bedeutet Streifzüge durch die Geschichte des Film Noir, durch die Häuser, Apartments und Absteigen der Protagonisten und vor allem durch viele Fragen, die sich Vennemann besonders zur Architektur und ihrer Darstellung im Film wie in der Realität stellt. Deshalb auch der geplante Besuch bei dem großen alten Herrn der Architekturfotografie, Julius Shulman.
Das Buch ist eine Konstruktion aus kunstvoll verwobenen Strängen. Sie entfalten eine Sogwirkung, die einen die anfangs irritierende, völlige Abbildungslosigkeit des Essays vergessen lässt. Die Bilder entstehen von selbst. Vennemann springt vor und zurück: innerhalb der Filme, meist im Kontext zur architektonischen Kulisse („jeder bekommt das Haus, das er verdient“), und innerhalb der Filmgeschichte. Und er mischt auch – besonders raffiniert – manche Filmszene mit der Realität, die er und seine Begleiterin im Einzugsgebiet des Sunset Boulevard (auf-)suchen. Da landen sie im Jahr 2008 zusammen mit Philipp Marlowe und Lindsay Marriott (Farewell, My Lovely, 1940) exakt auf der Wiese, wo 1949 zwei der berühmten Eames-Häuser des Case Study-Programms, initiiert vom Herausgeber der Fachzeitschrift Arts & Architecture John Entenza, entstehen sollten. Die heute noch dort stehen, allerdings zugewachsen und kaum sichtbar. Noch einen weiteren Erzählstrang webt Vennemann hier ein: den Konkurrenzkampf zwischen dem Spanish Colonial Revival und California Modern, der typische Stil Südkaliforniens zu sein respektive zu werden. Hier mischte die Los Angeles Times kräftig mit, indem sie zwar eine bildgewaltige Serie eines Mustertraumhauses im Kolonialstil zur Geschmacksbildung veröffentlichte, das zeitgleich entstehende wegweisende Lovell Health House (Richard Neutra, 1927-29) aber mit keinem Wort erwähnte.
Mantramäßig, in der vielfachen Wiederholung fast etwas zu penetrant, stellt Kevin Vennemann Fragen, die alle um ein Kernthema kreisen: Wie kann es sein, dass das Programm der Case Study Houses, das preisgünstige Eigenheime in simpler Bauweise mit vorgefertigten Teilen für alle Einkommensschichten zum Ziel hatte, scheitern konnte? Vor allem treibt den Autor um: Wieweit hat das Herstellen von Bildern die als Alltagsarchitektur geplanten Häuser zu Kunstobjekten veredelt. Interessiert einen Fotografen wie Julius Shulman, der sie erfolgreich und ästhetisch wie kein anderer in Szene gesetzt hat, der soziale Aspekt des Bauens? Trägt er eine Mitverantwortung dafür, dass es bei lediglich 24 Case Study Houses blieb, heute alles Schatzkästlein der kalifornischen Moderne? Berechtigte und wichtige Fragen, aber hier macht es sich Vennemann zu leicht, indem er sie beinahe ausschließlich Shulman stellen möchte. Und er bekommt vom „Meister“ persönlich auch keine Antworten mehr: Endlich in 7875 Woodrow Wilson Drive angekommen, hat der knapp 99-jährige Julius Shulman den Termin vergessen und ist „nicht vorbereitet“. (Christina Gräwe)
Sunset Boulevard. Vom Filmen,
Bauen und Sterben in Los Angeles
Kevin Vennemann
Edition Suhrkamp 2646, Berlin 2012
Broschur, 184 Seiten
14,00 Euro
www.suhrkamp.de