Unbewusste Orte: Seit 40 Jahren hat Thomas Struth in fünfzehn verschiedenen Ländern Straßenszenen mit seiner Kamera eingefangen, die auf den ersten Blick nicht besonders spektakulär wirken. Den deutschen Fotografen interessiert nicht das Leben in den Straßen, sondern pure Architektur, urbane Strukturen und soziale Räume. In St. Petersburg und Lima, Paris oder Tokio gelangen Struth stille Momentaufnahmen von verlassenen Straßen und Plätzen, Asphaltschluchten und Gebäudekomplexen, die abseits der berühmten Boulevards, Promenaden und Prachtmeilen eine ganz eigene Ästhetik entwickeln: mit überirdischen Stromleitungen, romantisch verwinkelten Gassen und ordentlich in Reihe geparkten Autos. Nur in den asiatischen Straßenszenen sind vorbeieilende Passanten zu sehen – wahrscheinlich, weil das urbane Leben hier nie still steht.
„Eine Aura der Ruhe und Stille erfüllte diese Fotografien, selbst jene, die im lärmenden Gewimmel New Yorks entstanden sind“, erinnert sich Richard Sennett an seinen ersten Eindruck von den Straßenbildern von Thomas Struth. Der amerikanische Kultursoziologe hat für den neuen Struth-Band „Unconscious Places“ den begleitenden Essay verfasst. Die Aufnahmen der „unbewussten Orte“ gehören zu einem Werkkomplex, den Thomas Struth bereits zu Studienzeiten anlegte und seit vier Jahrzehnten weiterentwickelt. Die ersten Straßenaufnahmen entstanden 1976 in Düsseldorf, weitere Ansichten von urbanen Architekturen, Plätzen, Straßenzügen und Gebäudekomplexen folgten in Köln, München, London, Brüssel, Rom und Paris sowie auf Reisen außerhalb Europas in Japan, China, Peru, Korea, Shanghai und den USA.
Thomas Struth ist ein Tourist, doch fotografiert er nicht die Wahrzeichen, die das offizielle Klischee einer Stadt definieren, sondern richtet seine Kamera auf solche Orte, die von der bewussten, alltäglichen Wahrnehmung größtenteils ausgeblendet werden – Orte selbstverständlicher Gewohnheit. Die Abwesenheit von Personen macht den Blick frei auf die Form und Dekoration der jeweiligen Architektur und rückt die vorgefundenen urbanen Strukturen als soziale Räume des städtischen Lebens in den Fokus. Struths strenge und sorgfältig komponierte Fotografien provozieren einen Wechsel der Einstellung: Sie machen aus Benutzern Betrachter und führen Ausschnitte einer gebauten Welt vor Augen, die sonst eher erlebt als bewusst wahrgenommen wird.
Mit visueller Intention und großer Sensibilität für den öffentlichen Raum thematisiert Struth ein globales Phänomen: das abstrakte Gebilde von Stadt – das vom Bewusstsein selten spezifisch erfasst wird, jedoch in der ganzen Welt aufzufinden ist – wird von dem Fotografen zu einer ästhetisch im Bild aufgerufenen Erscheinung. Mit großer Präzision und einem künstlerischen Blick für den Detailreichtum der vorgefundenen Wirklichkeit hat sich Thomas Struth einem poetischen Realismus verschrieben. „Unconscious Places“ ist parallel zur 13. Architekturbiennale in Venedig erschienen; in den Hallen des Arsenale ist eine Auswahl der Straßenfotografien zu sehen. Der Fotoband blättert sich dabei wie eine geheimnisvolle Geschichte verschiedenster Orte, die plötzlich vertraut und sichtbar werden. (jk)
Thomas Struth: Unconscious Places
Mit einem Text von Richard Sennett
Schirmer Mosel, München 2012
Hardcover, 264 Seiten, 228 Tafeln
in Farbe und Duotone
Englische Ausgabe mit deutscher Textbeilage
88 Euro
www.schirmer-mosel.com