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01.05.2012

Rasende Ruinen. Wie Detroit sich neu erfindet

Bücher im BauNetz


Detroit ist genug fotografiert worden! Seitdem der „Ruins-Guide“ hier ein eigenes Berufsbild geworden ist (viele Detroiter Bürger bieten für bis zu 100 Dollar Fotosafaris zu den monumentalen Industrieruinen und verlassenen Jugendstil-Ikonen an), lässt sich in Detroit ein Krisen-Tourismus der besonderen Art beobachten. „Medienmenschen rauschen für drei Tage durch die Stadt, haben ihre Thesen schon im Kopf, schießen ein paar spektakuläre Fotos und hauen wieder ab, um ihren Bullshit zusammen zu schreiben“, bringt Mike Banks, Kopf des Techno-Polit-Aktivisten-Kollektivs Underground Resistance, seine  Aversion gegenüber diesen Entwicklungen auf den Punkt. „Bloß kein Ruinen-Porno mehr!“ betitelt Katja Kullmann aus diesem Grund das Vorwort zu ihrem Buch. Der Journalistin geht es nicht darum, sich mit einem morbiden, trostlosen Abbild der einst blühenden „Motor City“ zu produzieren, sie will Mythos und Wahrheit voneinander trennen und sich selbst ein Bild machen. „Monumentale Industrieanlagen, breite Straßen, Parkplätze wie Sportfelder, Theaterpaläste, Kaufhauskathedralen und anderer Monsterkomplexe: Detroit zeigt, wie die Menschen sich vor einhundert Jahren die Zukunft ausgemalt haben – großartig. Doch die Zukunft hat es sich leider anders überlegt“, schreibt die Autorin zu Beginn.

Inszenierte Musiker-Biographien und gefundene Motown-Singles, vegane Pizza und Diabetiker-Limo in Neonpink: Einem Monat lang ist Kullmann im Herbst 2011 durch Detroit gelaufen, gefahren und durch die Ruinen gerast, sie hat unterschiedlichste Menschen und Charaktere getroffen, Geschichten gehört, Schicksale kennengelernt und als Volunteer bei der urbanen Selbstversorgerfarm „Earthworks“ mitgearbeitet. Mit ihrer klugen, charmanten Art hat sie es sogar geschafft, den medienscheuen Mike Banks – einem der „Urväter des Techno“ – zu einem Gespräch zu treffen, Fragen stellen zu dürfen und mit ihm über Programming, Kreativwirtschaft, Gentrifizierung und Verschwörungstheorien zu diskutieren.

Es sind dynamische und vielschichtige Prozesse, die Städte wie Detroit verändern, schrumpfen und ein bisschen sterben lassen. Katja Kullmann schaut auf ihrer Reise jedoch noch nicht nur nach Spuren einer untergehenden Industriemetropole, sondern nach möglichen Chancen einer Renaissance. Sie beschreibt ihre Beobachtungen – von kleinen Umbrüchen bis zu ersten positiven Veränderungen, Maßnahmen der Regierung, die Rolle der Yuppies und wie sich eine fehlende Mittelschicht zurückgewinnen oder entwickeln könnte. Detroit ist ein Experiment in Echtzeit, die Stadt ein  riesiges soziales Labor. Es heißt es nicht mehr „Lost in Detroit“, sondern „Learning form Detroit“.

Die knapp 100 Seiten lange Reportage liest sich locker in einem Zug; es ist ein äußerst kluges und amüsantes Buch. Katja Kullmann hat nicht nur einen frischen Blick, scharf beobachtet und lebendig geschrieben, mit einer bewundernswerten selbstkritischen Feder schafft sie eine überzeugende Dokumentation über die Zukunft der Städte anhand eines Beispiels abseits jeder Normalität. Unbedingte Pflichtlektüre für Stadtsoziologen, Architekten, Künstler und alle anderen – ach, nicht zu vergessen: die unbeliebten Ruinentouristen. (Jeanette Kunsmann)

Rasende Ruinen
Wie Detroit sich neu erfindet
Katja Kullmann
Edition Suhrkamp Digital, Berlin 2012
Paperback, 90 Seiten
5,99 Euro

www.suhrkamp.de

Nach der großartigen Buchpremiere im Berliner HBC. gibt es weitere Lese-Termine mit Katja Kullmann: am 10. Mai in der Hamburger Bar Golem, am 31. Mai im King Georg in Köln, am 5. Juni im Rahmen der Vortragsreihe Horizonte an der Bauhaus-Universität Weimar und am 20. Juni an der Akademie für interdisziplinäre Prozesse in Offenbach.


Zum Thema:

www.katjakullmann.de


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