Manch einer wird keine guten Erinnerungen an das Turngerät haben, das so ruhig und still auf dem Kunstrasen im Münchner Quartier Theresienhöhe grast. Die Pferde, die sonst über Wiesen und Weiden galoppieren, wurden hier als abstrahierte Tiere aus der Sporthalle befreit und in vereinfachter Form wieder in die Landschaft gebracht: als Pauschenpferd. Zwölf von diesen „traben“ über die grünen Hügel des Bahndeckels und sind Teil der 300 Meter langen und 50 Meter breiten Landschaftsskulptur. Dünen aus Gummi, orange leuchtende Mauerbänder, zwei mit Kunstrasen bedeckte Hügel, Kletterdünen, Trampoline, Nebelduschen und 8.750 Markierungsnägel sowie eine Materialcollage aus Kies, Kiefern, Kunststoff, Kunstrasen, Tartan, Styropor und Beton prägen seit vergangenem Sommer die Freifläche zwischen neu entstandenen Wohngebieten.
Entworfen von den Berliner Landschaftsarchitekten Topotek 1, der Künstlerin Rosemarie Trockel und Catherine Venart, wurde die Parkanlage Bahndeckel Theresienhöhe auf einer Stahlbetonbrücke errichtet. Der Ort ist nicht mit dem Erdboden verbunden – der Park schwebt also in der Luft. Keine einfache Aufgabe. Möglichst leicht mussten alle Parkelemente auf der dünnen Ingenieurmembran der Gleisüberdeckung sein. Der schwebende Raum verweigert sich dem Städtebau. Deshalb fokussiert die Parkgestaltung den Kontext des Brückenraums. Man sieht und hört die Züge. Als Widerspiegelung der unterhalb fahrenden Züge wurde eine Sequenz aus Spielkisten auf dem Deckel angeordnet. Diese Spielbahn beinhaltet drei verschiedene, auch als Landschaftselemente lesbare Materialien: eine Sport- und Spielfläche aus Tartan, eine Rasenmoräne und dazwischen vermittelnd eine große Sand- und Kieslandschaft.
Eine fast 250 Seiten starke Projektmonographie präsentiert die neue Parkgestaltung in Texten, Bilder und Zeichnungen und dokumentiert den Entwurfs- und Entstehungsprozess. In einem Interview mit Thilo Folkerts erzählen die Landschaftsarchitekten von Gartenkunst, dem Bahndeckel und der Zusammenarbeit mit Rosemarie Trockel und geben einen Einblick in den Berufsalltag der „Gemüsearchitekur“. Weitere Essays verschiedener Autoren thematisieren den allgemeinen Kontext infrastruktureller Räume, die Artifizialität des Projekts sowie die Struktur des Entwurfs in seinen vielen Ebenen, die Rolle von Kunstprojekten im öffentlichen Raum und die Transformation des öffentlichen Raums generell. Zwischen den Textpassagen erzählen die Fotos von Hanns Joosten in wunderbaren Atmosphären, wie der Bahndeckel Theresienhöhe heute aussieht. Teilweise sind die Fotoreihen sogar als Panoramen ausklappbar um dem länglichen Parkformat zu entsprechen. Technische Zeichnungen und detaillierte Beschreibungen stehen am Ende der Publikation und geben einen genaueren Einblick.
Ob Bahndeckel, Park oder Garten, Spielplatz, Landschaftsskulptur, Kunstwerk oder Kulisse –das Projekt „Bahndeckel Theresienhöhe“ ist künstlich und neu, auch als Typologie. „Alles ist Garten“, definiert Martin Rein Carno kurz und knackig die Kunstformen der Landschaftsarchitektur. „Im Garten des 18. Jahrhunderts bedeutete die Grenzauflösung zusammen mit der thematischen Integration der Dynamik einenParadigmenwechsel. Alles, was drum herum ist, ist Garten. Diese Lesart von Gartenkultur ist für mich interessant in der Auseinandersetzung mit Raum. Auch als strategische Waffe – denn letztendlich besteht die Gartenkultur nicht nur darin, ein paar Blümchen zu pflanzen.“
Auf dem Bahndeckel mischen sich daher zwei ganz verschiedene Genres: die Berge und das Meer. Mit diesen zitierten Bildern spielen Topotek 1 in ihrer Gestaltung. „Vorne die Alpen und hinten die Ostsee – also eine Ideallandschaft, in der Orte zusammenkommen, die man liebt, die aber weit auseinanderliegen“, beschreibt Martin Rein Carno die Idee des Projekts. Sehr charmant! Die unechten Berge mit den unechten Pferden akzentuieren das Spiel zwischen Wahrheit und Inszenierung. Sie machen neugierig, irritieren und sehen abgesehen von ihrer Metaphorik auch schlichtweg verdammt gut aus. Wir verstehen: Die Zeiten des englischen Landschaftsgartens und der barocken Gartenanlagen sind passé. Projekte wie der Bahndeckel Theresienhöhe zeigen, dass Landschafts- und Stadtarchitektur eine neue zeitgenössische Haltung braucht und keine Experimente scheuen sollte. So lassen sich auch längst vergessene Turngeräte in einem Stadtgarten platzieren. Alles ist Garten! (Jeanette Kunsmann)
Topotek 1 Martin Rein-Cano/ Lorenz Dexler, Rosemarie Trockel:
Eine Landschaftsskulptur für München/A Landscape Sculpture for Munich
Herausgegeben von Thilo Folkerts
Birkhäuser Verlag Basel 2010
Englisch/Deutsch
Hardcover, 128 Seiten
39,90 Euro
Zum Thema:
Erschienen in der Baunetzwoche#216 „Miniwelten – Spielplätze“