Mitten im Zentrum Shanghais steht die russisch-orthodoxe Kirche St. Nicolas aus dem Jahr 1932. Als Kirche ist sie allerdings schon lange nicht mehr genutzt worden, stattdessen war sie in den letzten 20 Jahren Büro, Fabrik, Lagerraum, Kantine und ein Clubrestaurant, bevor sie schließlich für eine ganze Weile leer stand. Dann interessierte sich die Buchladenkette
Sinan Books für die Kirche. Sie ist auf Poesie spezialisiert, hat in Shanghai mehrere Läden eröffnet und nutzt bevorzugt historische Gebäude der Kolonialzeit. Bei der Gestaltung arbeitet Sinan Books mit den ortsansässigen Architekt*innen von
Wutopia Lab zusammen, so auch beim Umbau dieser Kirche.
Nach den Vorgaben der Denkmalpflege durfte die Kirche nicht verändert werden: weder die Fassaden noch die bauliche Struktur, auch nicht der Hauptraum mit seiner Kuppel und seinen Wandmalereien. Wutopia Lab entwickelte auf dieser Grundlage eine ungewöhnliche, selbsttragende Struktur aus dünnen Stahllamellen, die sie in den Altbau stellten und die so wenig wie möglich Berührungspunkte mit der Kirche schafft. Die Figur aus Stahl erzeugt dabei einen neuen Innenraum mit wandhohen Buchregalen, darüber und daneben aber bleiben die Lamellen offen, sodass immer wieder Blicke auf die dahinterliegenden Kirchenwände und nach oben in die Kuppel möglich sind.
In den alten Nebenräumen um die Haupthalle wurden alle unnötigen Einbauten und Trennwände entfernt, aber Spuren der vergangenen Nutzungen bewahrt. Gleichzeitig wurden die alten Strukturen der äußeren Wände um die Haupthalle freigelegt und ihr Originalzustand restauriert, sodass diese im neuen Café wie eine Außenwand wirken. „Ich fand, dass dieser Poesie-Buchladen ein heiliger Ort in Shanghai werden sollte“, sagt Ting Yu, der Gründer von Wutopia Lab. „Es sollte eine Spiritualität jenseits von Religion entstehen. Wir haben die Buchhandlung daher als neuen Innenraum in die alte Kirche gesetzt, ein Kirche-in-der-Kirche-Konzept.“
Insgesamt waren satte 45 Tonnen Stahl nötig für die neue Struktur, die von 30 Arbeitern in 80 Tagen fertig gestellt wurde. Dafür wurden alle Teile einmal vor der Kirche zusammengebaut, bevor sie im Innenraum endgültig verschweißt wurden. Die Lamellen sind fünf Millimeter dünne Stahlplatten, die in der Haupthalle einen 9,90 Meter hohen, zentralen Raum bilden und zu den alten Wänden überall einen deutlich sichtbaren Abstand von 50 Zentimetern lassen.
(fh)
Fotos: CreatAR Images
Zum Thema:
Mehr zum Thema Bibliotheken und Buchläden in China in der BAUNETZWOCHE#566, die am 5. November 2020 erscheint.
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D.N. | 04.11.2020 08:13 UhrChina
Donnerkeil: 45 Tonnen Stahl für einen Buchladen! Aber das Konzept gefällt mir, Kirche-in-der-Kirche. Matroschka-Prinzip. Und beim Stahl bleibt ja die Hoffnung, dass er anschliessend (falls es mit dem Buchladen doch nicht so glorreich läuft ein Poesie-Buchladen!!!) wieder eingeschmolzen werden kann.