Die Entwicklung des ehemaligen Wiener Nordbahnhofs wurde in den letzten Jahren weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Die städtebauliche Planung von StudioVlayStreeruwitz aus dem Jahr 2012 setzt auf einen spannenden und konsequent umgesetzten Kontrast: Verdichtung an den Rändern mit kleinen Wohnhochhäusern, programmatisch verwilderter Grünraum im Inneren des Areals.
Wer diese Tage durch und um das Areal herumläuft, wird sich wundern, dass direkt neben dem Nordbahnviertel noch ein weiteres Bahnhofsareal liegt, das bis vor kurzem als Güterumschlagplatz genutzt wurde: der Nordwestbahnhof. Diese Ballung zweier weitläufiger Bahngelände inmitten der Stadt wirkt überraschend. Sie ist letztlich das Ergebnis der wirtschaftlichen Dynamiken der Gründerzeit und ihrer verschiedenen, privatwirtschaftlich betriebenen Eisenbahnlinien.
Der Nordwestbahnhof wurde 1872 in Betrieb genommen, anfangs auch für den Passagierbetrieb, später als reiner Güterbahnhof. Während vom benachbarten Nordbahnhof Verbindungen nach Mähren und Schlesien verliefen, zielte die Nordwestbahn auf die Anbindung der böhmischen Industriegebiete und weit darüber hinaus bis an Nord- und Ostsee. Bis 2020 war der Bahnhof in Betrieb, unter anderem liegen hier die Wurzeln des globalen Logistikers Schenker. Nicht zuletzt entwickelte sich um das Areal herum auch ein Geflecht informeller Ökonomien.
Mit Blinder Fleck Nordwestbahnhof von Michael Hieslmair, Bernhard Hachleitner und Michael Zinganel liegt nun eine schmale und schön gemachte Publikation vor, die die faszinierende Geschichte des Bahnhofs quer durch die Jahrhunderte erzählt. Das beginnt mit der Donauregulierung und den gewaltigen Arealen, die dadurch im heutigen zweiten und zwanzigsten Bezirk gewonnen wurden. Vorgestellt werden Skurrilitäten wie eine künstliche Skipiste in der ehemaligen Bahnhofshalle 1927, aber auch verdrängte Geschichten wie die antisemitische Ausstellung „Der ewige Jude“ in eben dieser Halle elf Jahre später.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Bahnhof schließlich zu einem boomenden Güterumschlagplatz – der sich erstaunlich lange hielt. Mit 44 Hektar Größe ist das Gelände heute das letzte große innerstädtische Entwicklungsgebiet Wiens. Laut aktueller Planungen der Stadt sollen hier ab 2026 rund 6.500 Wohnungen und 4.700 Arbeitsplätze entstehen. Damit wird auch die immense Barrierewirkung des weitläufigen Areals aufgehoben. Hoffentlich wird hier ebenso ambitioniert geplant, wie im benachbarten Nordbahnviertel. Wie auch immer die Zukunft aussehen wird, die Vergangenheit hat man nun kompakt zur Hand.
Text: Gregor Harbusch
Blinder Fleck Nordwestbahnhof. Biografie eines innenstadtnahen Bahnhofsareals
Michael Hieslmair, Bernhard Hachleitner und Michael Zinganel
Gestaltung: seite zwei
214 Seiten
Falter Verlag, Wien 2022
ISBN: 9783854397168
29,90 Euro
Zum Thema:
Im Zusammenhang mit der Stilllegung des Nordwestbahnhofs veranstalten Tracing Spaces (Michael Hieslmaier und Michael Zinganel) das Projekt „Cargo Vienna“. Am Freitag, 13. Oktober 2023 findet von 14 bis 18 Uhr eine performative Exkursion zu neuen Standorten von ehemals am Bahnhof ansässigen Betrieben statt. Weitere Informationen zum Projekt und Anmeldung zur Exkursion hier.
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Bertram Ernst | 05.10.2023 09:18 UhrBlinder fleck
Ja, die Planung wird und ist ebenso ambitioniert wie im Nordbahnhof! Sie erfolgt durch Ernst Niklaus Fausch Partner aus zürich und kann auf deren Homepage: www.enf.ch eingesehen werden.