Utopia, so heißt die neue Bibliothek und Akademie für Darstellende Künste in der zwischen Brüssel und Gent gelegenen flämischen Stadt Aalst. Mit diesem bedeutungsvollen Namen nimmt der von KAAN Architecten geplante Bau direkten Bezug auf die berühmte Sozialutopie von Thomas Morus aus dem Jahr 1516, die erstmals vom Aalster Verleger Dirk Martens publiziert wurde. Mit einem Entwurf, der die charakteristische Backstein-Ästhetik der verwinkelten Aalster Innenstadt aufnimmt und weiterführt, gewann das Rotterdamer Büro den 2015 von der Stadt ausgeschriebenen offenen Wettbewerb für die Neugestaltung eines zentral gelegenen Straßenblocks.
Prinzipien wie Gleichheit, Respekt und Zusammenarbeit spielen in Morus’ Roman „Utopia“, der eine ideale Gesellschaft beschreibt, eine tragende Rolle – und auch das gestalterische Konzept von KAAN basiert auf einem respektvollen Zusammenspiel von alt und neu, von vorhandener urbaner Textur und architektonischer Intervention. Die Fassade des rund 8.300 Quadratmeter fassenden neuen Baukörpers besteht aus Backsteinen in der Farbe „Red Aalst“ und passt sich damit perfekt in das umgebende Gefüge ein. Das Volumen wurde zudem so auf dem Grundstück platziert, dass drei neue öffentliche Plätze im Außenbereich entstehen.
Bemerkenswert ist der besondere Umgang mit dem Bestand. Die sogenannte Pupillenschool, eine ehemalige Bildungseinrichtung für Soldatenkinder aus dem Jahr 1880, ist Teil des neuen Bibliothekskomplexes und wurde als solcher im ganz wörtlichen Sinne integriert: Alt- und Neubau durchdringen einander auf selbstverständliche Weise und treffen in einem zentralen Atrium unmittelbar aufeinander. Die Fassade der Pupillenschool bildet hier die innere Begrenzung des Lesesaals der Bibliothek.
Die Akademie für Darstellende Künste flankiert diese Halle im ersten und zweiten Geschoss. Sie umfasst einen Ballettsaal sowie Probe- und Unterrichtsräume mit geschosshohen Fenstern, die zur Stadt hin die Fassade des Neubaus strukturieren. Um den Altbau diesbezüglich gestalterisch anzupassen, wurden dort sprossenlose Fenster eingesetzt und die Fensteröffnungen im Erdgeschossbereich nach unten hin vergrößert.
Ein weiterer Akzent zeigt sich im Mauerwerk: Im Gegensatz zur klassisch vertikalen Ausrichtung beim ehemaligen Schulgebäude kamen beim neuen Volumen lange, schmale Steine zum Einsatz. Das verlagert hier die Betonung in die Horizontale. Hellgraue Betonelemente im Innenraum sind der dritte Partner in diesem Material-Dialog, dazu gesellt sich der warme Holzton der hohen Bücherregale. Die dicken Betongeschossflächen, die das Atrium durchziehen, scheinen direkt auf ihnen zu ruhen. Auch wenn sich die eigentlichen Stützen hinter dem Holz verbergen: Bücher als Tragwerk – ein schönes Bild für die fundamentale Macht von Bildung. (da)
Fotos: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti
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Günther Hasenberg | 20.07.2018 17:52 Uhrtragende Regale
....nein, man glaubt es den Regalen nicht, dass sie die Decken tragen könnten. Eher, dass die Decken an den Treppen auskragen, wie ein Tennisschläger am Griff. Aber auch das glaubt man nicht. Man findet keinen Begriff, außer: sie scheinen zu schweben, die Decken. Ob ein Vertrauen zur Stabilität aufkommt, kann aus Fotos nicht erschlossen werden......