Es war für zwei Dekaden womöglich das bekannteste Bild in der Tagesschau: Kam ein Beitrag aus Bonn, zoomte die Kamera immer kurz auf Henry Moores Großplastik „Large Two Forms” vor dem flachen Rasterbau des Bundeskanzleramts. So nüchtern-sachlich dessen Architektur auch ist – der FAZ-Kritiker Eberhard Schulz erkannte in dem Kanzleramt die „Kreuzung von Intimität und emsiger Computerintelligenz der Ära Brandt“ – so sehr besaß das Gebäude von 1974 der Planungsgruppe Stieldorf eine hohe symolische Bedeutung in der Öffentlichkeit.
Wie die Bautätigkeit der Bundes in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, hat die Architekturhistorikerin Elisabeth Plessen in ihrer umfangreichen Publikation Bauten des Bundes 1949–1989. Zwischen Architekturkritik und zeitgenössischer Wahrnehmung aufbereitet. Mit dem Bundeskanzleramt der Gruppe Stieldorf, so zeigt Plessen, war Bonn als Hauptstadt gesellschaftlich manifest geworden. Erst zwanzig Jahre nachdem die Stadt am Rhein 1949 zur Interimskapitale der Bundesrepublik geworden war – weshalb alle frühen Regierungsgebäude stets unter dem Credo des Provisorischen standen! – plante der Bund ein Haus, das auch ganz offiziell dauerhaft genutzt werden sollte. Zum ersten Mal seit dem Ende des Krieges wurde deshalb 1971 ein öffentlicher Wettbewerb ausgelobt. Und wie empfand man schließlich das architektonische Gesicht der bundesrepublikanischen Machtzentrale am Rhein? „Landläufig, geschäftsmäßig – wie eine Sparkasse“, zitiert Plessen Helmut Schmidt.
Plessen hat ein enormes Konvolut angelegt: Alle öffentlichen Bauaufträge des Bundes von 1949 bis 1989 hat sie in ihrer kiloschweren Publikation zusammengetragen. Diesem reichhaltigen Katalog hat sie eine lesenswerte Medienanalyse vorangestellt. Von der frühen Nachkriegszeit und dem provinziell empfundenen Bonn, wo regelmäßig ein Schäfer mit seiner Herde an den ersten Bundesbauten vorbeizog, bis zu den späten Achtzigerjahren, in denen Helmut Kohls großgestische Pläne für das Deutsche Historische Museum in Berlin ein neues deutsches Selbstbewusstsein belegen, begleitet Plessen die Genese der BRD anhand der medialen Darstellung ihrer staatlichen Bauprojekte.
Plessens ausführliche – man kann vermuten: lückenlose – Recherche der deutschen Pressestimmen macht deutlich: Die Gesellschaft der BRD war von 1949 bis 1989 durch ihre faschistische Vergangenheit und die Vorläufigkeit des Staatskonstrukts verunsichert. Sensibel beobachtete die Öffentlichkeit, wie sich die „Demokratie als Bauherr” äußerte. Die gespaltenen Reaktionen auf die Residenz des Botschafters in Washington spiegelt dieses unbeständige Verhältnis der Menschen zu ihrem Interimsstaat wider. Die FAZ bezeichnete das in der Vorwendezeit geplante und 1994 eröffnete Repräsentationsprojekt von Oswalt Matthias Ungers mit seinem monumentalem Portikus als befremdlichen „Tempel eines neuen Gottes”, während die Berliner Zeitung geradezu erleichtert war, darin eine „neu-preußische Ästhetik” zu sehen. Architekturkritik an Bundesbauten war immer auch zeitgenössische Gesellschaftskritik.
Text: Sophie Jung
Bauten des Bundes 1949–1989. Zwischen Architekturkritik und zeitgenössischer Wahrnehmung
Elisabeth Plessen
675 Seiten
DOM publishers, Berlin 2019
ISBN 978-3-86922-518-0
98 Euro