Stellen Sie sich ein Haus vor, in dem jeder Raum der Produktion und Erforschung erstaunlicher Dinge dient. Und dazu denken Sie sich ein Buch, das seine Leser*innen auf eine Expedition durch dieses außergewöhnliche Gebäude mitnimmt. Nein, es geht bei der hier rezensierten Publikation nicht um Charlies Schokoladenfabrik. Aber mit genügend Fantasie kann es durchaus gelingen, BioProtopia. Designing the Built Environment with Living Organisms derart zu lesen.
Vielmehr geht es um alternative Bauformen, die dem Begriff nachwachsende Rohstoffe eine neue Dimension verleihen. Die Herausgeber*innen Ruth Morrow, Ben Bridgens und Louise Mackenzie sprechen von Häusern, die im buchstäblichen Sinn wachsen oder sich selbst reparieren können. Mit BioProtopia wollen sie vor allem die Gestaltungsmöglichkeiten von und mit lebenden Organismen in der Architektur darstellen.
Hintergrund der Publikation ist die aktuelle Forschung am britischen Hub for Biotechnology in the Built Environment (HBBE). Dort arbeiten Wissenschaftler*innen der Biologie zusammen mit Architekt*innen, Gestalter*innen und Ingenieur*innen an Biotechnologien für „lebende Gebäude“. Im Mittelpunkt steht das weiter oben angesprochene Haus. Genauer gesagt handelt es sich dabei um einen Pavillon an der Universität Newcastle, den das HBBE als Reallabor für seine Forschung errichtet hat. Dessen Name OME leitet sich aus der Endung englischer Begriffe wie „Genome“, „Biome“ und „Home“ ab.
In diesem Forschungspavillon wurden und werden prototypische Mock-Ups sowie Proben „lebender“ Materialien untersucht. Das Haus selbst ist eher unspektakulär, bietet aber diverse Möglichkeiten, die Prototypen zu testen und der Öffentlichkeit vorzustellen. Ziel war es, die nahezu perfekten Bedingungen eines Labors mit den Realitäten des Alltags zu vereinen. So integriert es etwa einen experimentellen Wohnraum, in dem komplexe Stoffkreisläufe für ein autarkes Haus untersucht werden.
Und damit wären wir bei den erstaunlichen Dingen: Das Buch präsentiert in seinem Hauptteil die Forschungsergebnisse und Versuchsanordnungen, die im OME unternommen werden. Beispielsweise stellten die Forscher*innen einen kuppelförmigen Pavillon auf, der aus einem Gerüst maschinell gestrickter Textilschläuche besteht. In einer Wachstumskammer ließ man diese eigentlich flexible Struktur mit einem Myzelium (Pilzgeflecht) und bakterieller Zellulose zu einem stabilen Gebilde verwachsen.
An einer Außenwand des Forschungshauses wurden Schindeln aufgehängt, die wohl eher an die Haut von Alienwesen denken lassen als an ein funktionsfähiges Fassadenmaterial. Ihre Beschaffenheit beruht ebenfalls auf bakterieller Zellulose, die zuvor aus sogenannten SCOBYs (bekannt aus der Kombucha-Methode) gezüchtet wurden. An anderer Stelle sind wiederum Proben eines sich selbst heilenden Mauerwerks zu sehen, für die herkömmlicher Kalkmörtel mit entsprechenden Bakterien versehen wurde. Der Prozess der Selbstreparatur bleibt dabei an der Oberfläche in Form von Kalkablagerungen und Texturveränderungen sichtbar. Das erinnert auch an die Selbstheilungskräfte und Langlebigkeit Jahrtausende alten römischen Betons.
Doch zurück zu den Lebenden. Neben den architektonischen Mock-Ups im Reallabor sind auch eine Reihe kleinmaßstäblicher Versuchsmodelle Teil des Projekts. Die Forscher*innen untersuchen unter anderem, wie Hydrogele aus Algen auf trockene Oberflächen aufgetragen werden können, um bei Bedarf als Kohlenstoffsenken zu wirken. Sie kreieren smarte Materialien, die ihre Form entsprechend der Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Licht verändern. Und sie arbeiten an der Frage, was möglich ist, wenn wir biologische Organismen (wie Pilze) einfach wachsen lassen, die entsprechenden Umweltbedingungen aber künstlich herstellen.
Dieses reich bebilderte Buch ist eine Sammlung höchst interessanter, biotechnologischer Prototypen im Bereich der Architektur. Gleichermaßen will es aber auch ein anderes Verständnis vom Bauen formulieren, als es heute existiert. Nimmt man die vorgestellten Forschungen ernst, würde es unsere Perspektive auf das Bauen um 180 Grad wenden, sagen die Verfasser*innen. Von der Ästhetik ganz abgesehen müssten etwa industrielle Produktionslogiken, strikte Kontrollierbarkeit und Gewährleistung von Materialien sowie zu eng gefasste Regularien hinterfragt werden. Noch steht die Forschung zu „lebenden Häusern“ aber ganz am Anfang.
Text: Maximilian Hinz
BioProtopia. Designing the Built Environment with Living Organisms
Ruth Morrow, Ben Bridgens und Louise Mackenzie (Hg.)
Englisch
188 Seiten
Birkhäuser, Basel 2023
ISBN 978-3-0356-2579-0
58 Euro