Ein Haus wird betreten. Aber durchläuft, ertastet, erfühlt, erobert und hinterfragt man es nicht auch? Spätestens seit der Moderne ist Bewegung auch immer ein Prozess von Wechselwirkungen zwischen Mensch und Raum. Das Durchblättern des Buches „Bau Körper Bewegung. Prozessuale Raumaneignung in der Moderne“ von Tina Zürn, das aus ihrer preisgekrönten Dissertation hervorgegangen ist, gleicht dem Begehen eines Gebäudes. Zürn nimmt darin ihre Leser an die Hand und durchläuft mit ihnen verschiedene Ikonen der Moderne. Diese sind manchmal groß wie die Seattle Library und manchmal funktional aber ästhetisch wie die Frankfurter Küche, manchmal ungezwungen wie die Freie Universität Berlin und manchmal streng getaktet wie das Guggenheim Museum.
Doch was genau lohnt es sich, in der Bewegung scharf zu sehen? Das Buch windet sich entlang verschiedener Gebäudetypologien und arbeitet aus diesen Elemente heraus, die bei allen im Zentrum der Raumaneignung stehen: Auf Treppen, Rolltreppen, Gängen, Ecken, Rampen und an festen und verstellbaren Wänden spürt man die Bewegung des eigenen Körpers besonders. Visuell wird dies allerdings eher als Verschiebung der Umgebung wahrgenommen. Das Auge sieht, was der Körper macht und oft, wenn man schaut, steht der Körper still.
Um den Zweck dieser Elemente erweitert zu begreifen, ist folgendes Gedankenexperiment spannend: Man stelle sich das Guggenheim Museum von Wright ohne Rampe oder Palladios La Rotonda ohne Treppen vor. Oder besser: Man stelle sich nur die Rampe beziehungsweise Treppe ohne Gebäude vor. Auf einmal scheinen sie nicht auf Infrastruktur reduziert, sondern sie erlauben eine neue räumliche Einordnung durch das Ändern der Perspektive. Seit Einführung der Rolltreppe ist der Etagenwechsel irgendwie entspannter und alles herum erscheint plötzlich scharf, während die einen fortbewegende Rolltreppe unscharf in den Hintergrund tritt.
Mit den Worten des Architekturhistorikers Paul Zucker bringt es Zürn auf den Punkt: ,,Zweck der Baukunst ist es eine bestimmte Bewegung durch eine Raumfolge zu erzeugen.“ Manche Raumfolgen in ihrem Buch schaffen es jedoch auch, mehr als nur eine einzelne Bewegung zu erzeugen. Um es mit Simmel zu ergänzen: ,,Verhalten ist architektonisch gewachsen“. Wer im Wiener Haus Beer von Josef Frank aufwächst, wird von Symmetrie verunsichert sein. Wer nur das Guggenheim kennt, wird überall im Kreis laufen. Ein Raum ist immer nur ein Potenzial möglicher Bewegung. Machen muss diese jeder selbst.
Zürn schafft es auf beeindruckende Art, den Leser nicht nur zu informieren sondern auch emotional zu begleiten. Da die Autorin stets antizipiert, was der Leser gerade empfindet, ermöglicht die Architektur des Buches betreute Bewegung. Bewegen heißt jedoch nicht immer gleich körperlich woanders sein. Hans Scharouns Berliner Philharmonie übersetzt den durch Musik ausgelösten körperlichen Bewegungsdrang der Besucher für das Auge. Hier gibt es einfach viel zu sehen und keine schlechten Plätze. Wer hingegen lieber körperlich verloren gehen möchte, sollte besser einen Bau von Koolhaas aufsuchen.
Die Möglichkeiten der Bewegung sind größer als die Summe ihrer Teile Bauwerk und Körper. So sind die Möglichkeiten von Zürns Buch auch fantasievoller als man es im Rahmen einer Dissertation eigentlich erwartet. Zürn liefert mit diesem Buch ein neues Periodensystem der Elemente. Richtig angewendet, erschaffen diese Elemente Gemeinschaft und Reflexion. Ein Fenster verbindet mit dem Außenraum, ein Fahrstuhl bietet häufig einen konzentrierten Moment des Selbst. Das Buch hinterlässt den Wunsch, selbständig loszulegen, sich den Rohbau anzueignen und mit Gefühlen und Erlebnissen zu füllen.
Text: Tom Brennecke
Bau Körper Bewegung. Prozessuale Raumaneignung in der Moderne
Tina Zürn
Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2016
360 Seiten
ISBN 978-3-422-07387-6
49,90 Euro