Noch bis zum 26. März 2023 ist im Wien Museum eine Ausstellung zu sehen, die ein weitgehend vergessenes Kapitel avantgardistischer Design- und Architekturgeschichte der Zwischenkriegsjahre in den Mittelpunkt stellt. „Atelier Bauhaus, Wien“ gibt erstmals einen umfassenden Überblick über das Werk von Friedl Dicker (1898–1944) und Franz Singer (1896–1954), deren Entwürfe für Möbel und Interieurs in klaren sachlichen Formen und kräftigen Farben eine Ausnahmeerscheinung der Wiener Wohnkultur jener Jahre bilden.
Friedl Dicker und Franz Singer hatten seit 1916 an der von Johannes Itten während des Ersten Weltkriegs in Wien gegründeten privaten Kunstschule studiert und folgten ihrem durch Walter Gropius ans Staatliche Bauhaus berufenen Lehrer 1919 nach Weimar. 1923 machten sie sich in Berlin mit den Werkstätten bildender Kunst, denen sich auch andere Bauhausschüler*innen anschlossen selbstständig. Die Werkstätten boten kunstgewerbliche Erzeugnisse – darunter Tischler-, Web- und Goldschmiedearbeiten, Buchbinderei, Spielzeug, Marionettentheater sowie Innenarchitektur – an, die jedoch nicht für die Massenproduktion gedacht waren. Die wenigen erhaltenen Einzelanfertigungen sind eher von dem durch Johannes Itten vertretenen künstlerisch-individuellen Ideal des frühen Bauhauses geprägt.
Diesem folgten Friedl Dicker und Franz Singer auch nach ihrer Rückkehr nach Wien, wo sie sich 1925 zu einer Ateliergemeinschaft zusammenschlossen. Sie spezialisierten sich auf den Entwurf von Möbeln sowie die Einrichtung von Häusern, Wohnungen, Geschäften und Kindergärten. Es entstanden außergewöhnlich innovative, zumeist geometrisch klar gegliederte und häufig flexibel nutzbare Interieurs sowie klapp- und stapelbare Möbel, deren Farben und Materialität eine zentrale Rolle spielten. Unter den Grundsätzen von Raumökonomie und Nutzungsvielfalt entwickelten Dicker und Singer einen unverwechselbaren Einrichtungsstil. Trotz zahlreicher Aufträge in den 1920er und frühen 1930er Jahren sind ihre – mehrheitlich für jüdische Auftraggeber*innen gestalteten – Werke größtenteils verloren, Wohnungseinrichtungen fielen in der NS-Zeit Zerstörungen zum Opfer, manches wurde aber auch in die Emigration mitgenommen. Franz Singer gelang 1934 die Übersiedelung nach London, Friedl Dicker flüchtete nach Prag und wurde 1944 in Auschwitz ermordet.
Die von Katharina Hövelmann, Andreas Nierhaus und Georg Schrom kuratierte Ausstellung präsentiert die wichtigsten Arbeiten des Ateliers zwischen Bauhaus und Emigration, darunter farbige Axonometrien, Fotografien, Modelle und Möbel unterschiedlicher Projekte vom Montessori-Kindergarten im Goethehof bis zum luxuriösen Gästehaus Auersperg-Hériot, vom innovativen Stahlrohrsessel bis zum Phantasus-Baukasten. Begleitend zur Ausstellung, die in Kooperation mit dem Bauhaus-Archiv Berlin entstand, ist ein umfassender, reich illustrierter Katalog mit Essays und kommentiertem Werkverzeichnis der Ateliergemeinschaft Dicker-Singer erschienen.
Ausstellung: noch bis 26. März 2023
Ort: Wien Museum MUSA, Felderstraße 6-8, 1010 Wien
Zum Thema:
wienmuseum.at
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