Homöostase. Der Begriff bezeichnet einen Zustand des Gleichgewichts in einem dynamischen System. Der Planet Erde kann als solcher verstanden werden oder der menschliche Körper. Die Publikation Atmosphere Anatomies. On Design, Weather, and Sensation nimmt diese Tatsache als Ausgangspunkt und versteht klimatische Phänomene als Designmedium. Die Autorin Silvia Benedito, Architektin, Stadtplanerin und außerordentliche Professorin für Landschaftsarchitektur an der Graduate School of Design (GSD) der Harvard University, versteht Raum primär als Wahrnehmung des Wetters im weiteren Sinne. In Zeiten der Klimakrise und der gefährlich hohen Aufladung der gasförmigen Hülle unseres Planeten mit Kohlendioxid hat dieser Ansatz etwas erfrischend Anderes.
Im (vorwiegend deutschsprachigen) Diskurs war die Atmosphäre freilich schon einmal, in den 1990er Jahren, ein zentraler Begriff, als Gernot Böhme sein Buch Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik veröffentlichte. Seine Herangehensweise war aber eine phänomenologische und als Befreiungsschlag aus der Vorherrschaft der postmodernen Semiotik gedacht, in der alles Gebaute nur mehr intellektuelles Zeichen schien. Beneditos Herangehensweise ist eine andere, gewissermaßen eine physiologische; sie ist ein naturwissenschaftliches Sezieren der Atmosphäre und ihrer intensiven Wechselwirkungen mit der gebauten Umwelt und das mit klarer ökologischer Stoßrichtung.
Denn war es nicht die Versiegelung unserer Innenräume mit thermischen Barrieren und dem damit einhergehenden Siegeszug der Klimaanlage in allen Erdteilen, die zu einem guten Teil für den steigenden Energieverbrauch verantwortlich war und letztlich zur gegenwärtigen Krise entscheidend beigetragen hat? Heute sei es notwendig, die klimatischen Bedingungen in der gebauten Umwelt wieder mit den lokal vorherrschenden Wetterphänomenen zu koppeln. Schließlich ist damit für Benedito ein bisweilen etwas in Vergessenheit geratenes Kriterium verbunden – das Wohlbefinden des Menschen. Im Sinne des von der Autorin zitierten Fernando Pessoa: Wir spüren das Wetter, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Es betrifft uns alle und gleichzeitig jeden einzelnen. Großmaßstäblich ist das vielleicht wie beim berüchtigten Berliner Winter, in dem sich eine ganze Stadt alljährlich in kollektive Depression begibt.
Atmosphere Anatomies geht mit einer Kritik der Augen-zentrierten Rezeption von Architektur einher. Für die Autorin ist diese nur ein Bereich in einem räumlichen Kontinuum aus Geräuschen, Gerüchen und Berührungen. So ist Beneditos Buch, wie es Christophe Girot in seinem Vorwort formuliert, „erfrischend und herzerwärmend zugleich: Jedes Projekt, das sie analysiert, kann man fast riechen und schmecken; jede Seite ist lebendig und reich an Beschreibungen von Gefühlen und Sinnen.“ Zu dieser Stimmung tragen die Bilder von Iwan Baan bei. Der Fotograf hat für die Publikation eine reife Arbeit abgeliefert, die sich nicht in einem selbstreferenziellen Stil verliert und stattdessen die Orte beziehungsweise ja: die Atmosphären der ausgewählten Projekte in einem ungeschminkten, mit dem Alltagsleben der Menschen aufgeladenen Duktus erfahrbar macht.
Wo wir von der Auswahl der Projekte sprechen. Diese decken Architektur, Landschaftsarchitektur und Stadtplanung auf vier Kontinenten ab und reichen von historischen Beispielen wie der Villa d’Este in Tivoli und William Kents Rousham Garden aus dem 18. Jahrhundert über moderne Klassiker wie Le Corbusiers Chandigarh und Lina Bo Bardis SESC Pompéia Community Center in São Paolo bis zu Erholungs- und Freizeitarealen wie dem kleinen, aber feinen Paley Park in New York von Zion Breen Richardson Associates oder den Geometric Hot Springs in Chile von Germán de Sol. Alle sind durch die Brille der Gestaltung (mikro-)klimatischer Atmosphären betrachtet interessant, bleiben aber in der Zusammenstellung wenig zwingend. Benedito macht denn auch die Einzigartigkeit jedes Fallbeispiels in ihrem klimatischen Kontext deutlich. Alle stehen, wenn auch locker in Kapitel gegliedert, mehr oder weniger für sich.
Als Gestaltende darf man also kein anwendungsorientiertes Kompendium möglicher Designlösungen erwarten. Dafür gewinnt man aus der Methode einen Werkzeugkasten, um die jeweilige lokale Situation besser zu analysieren – und ein tieferes Verständnis für die Zusammenhänge. Axonometrien der Projekte stellen Effekte wie Wärmeentwicklung, Sonnenlicht, Feuchtigkeit, Regen, Wind und Luftzirkulation in unterschiedlichen Jahreszeiten und klimatischen Bedingungen dar. Beziehungen zwischen Architektur, Pflanzen, Wasser, überdachten und Freiflächen werden so einfach verständlich.
Ob nun Atmosphäre und Meteorologie tatsächlich zum Dreh- und Angelpunkt der Architekturgestaltung werden sollten, sei dahingestellt. Aber auch, wenn man den von Benedito eingeschlagenen Weg als „notwendigen Paradigmenwechsel“ nicht bis zum Ende zu gehen bereit ist, bieten ihre Ausführungen viele Anregungen für eine energieeffizientere, ressourcenschonende – kurz: ökologisch-nachhaltige – Bauweise.
Text: Alexander Stumm
Atmosphere Anatomies. On Design, Weather, and Sensation
Silvia Benedito
Englisch, 360 Seiten
Lars Müller Publishers, Zürich 2021
ISBN 978-3-03778-612-3
35 Euro