Die Masse macht’s. Gerade wenn es um Städte und deren oft unverwechselbaren Charakter geht. Nicht das einzelne, herausragende Gebäude spielt die entscheidende Rolle, sondern die Menge und Qualität der Alltagsarchitekturen. Traditionen und Baugesetze sind hierbei besonders relevant.
Richtig also, dass Kilian Schmitz-Hübsch in seinem Buch Athens’ Polykatoikias 1930–1975 über den modernen Wohnungsbau in der griechischen Hauptstadt gleich zu Beginn auf zwei Baugesetze verweist, die 1929 erlassen wurden. Zweck beider Gesetze war es, den Geschosswohnungsbau zu fördern, um die neoklassizistische, dünn bebaute Stadtstruktur in eine dichte europäische Metropole zu transformieren. Und das wohlgemerkt in dem Moment der Städtebaugeschichte, als quer durch die planenden Disziplinen hindurch gefordert wurde, durchgrünte und funktional geordnete Städte zu schaffen.
Das architektonische Ergebnis dieser Modernisierungsbemühungen kennt man auch über Griechenland hinaus – die Polykatoikia, wörtlich übersetzt „viele Wohnhäuser“. Diese Bauten prägen das Gesicht Athens bis heute, auch weil sie sich als robust und flexibel herausgestellt haben und ab Ende des Zweiten Weltkriegs zunehmend zu mischgenutzten Bauten wurden, wie man sie sich heute wieder sehr wünscht. Ein sehr guter Grund, sich die Polykatoikia einmal genauer anzusehen.
Schmitz-Hübschs Beschreibung der Polykatoikia als „modern und pragmatisch“ liefert den Schlüssel zum Erfolg dieser Typologie, die sich über die Jahrzehnte natürlich in den unterschiedlichsten architektonischen Ausformulierungen zeigte (und in den Nachkriegsjahrzehnten auch oft ohne gestalterischen Anspruch umgesetzt wurde). Was viele Bauten eint und auszeichnet, ist ihre Konstruktion als flexibel nutzbarer Stahlbetonskelettbau.
Schmitz-Hübschs Buch ist wohlgeordnet und leicht zugänglich. In drei chronologisch und zugleich gestalterisch-thematisch strukturierten Kapitel präsentiert er fast 80 Bauten. Jedes Haus wird wiederum durch einen exemplarischen Grundriss, aktuelle Aufnahmen des Athener Fotografen Dimitris Kleanthis und einen informativen Kurztext dargestellt.
Zwischen den drei Hauptkapiteln gibt es Überblickstexte zu Grundrissen, Eingangssituationen und Balkonen. Unbedingt lobenswert sind die sauberen Querverweise innerhalb des Buches, die Biografien der Architekt*innen sowie Quellenangaben zu Literatur und verwendeten Planmaterialien. Nur Stadtpläne, auf denen die Bauten verortet sind, fehlen. Egal: Auch ohne Pläne kann man das Buch als empfehlenswerten, thematischen Reiseführer begreifen – den man auch mit viel Gewinn daheim auf dem Sofa lesen kann.
Text: Gregor Harbusch
Athens’ Polykatoikias 1930–1975
Kilian Schmitz-Hübsch
Englisch
320 Seiten
Verlag Kettler, Dortmund 2023
ISBN 978-3-98741-070-3
38 Euro
Zum Thema:
Dem Thema Polykatoikia widmete sich auch der Berliner Architekt Richard Woditsch vor einigen Jahren – hier geht es zu unserem damaligen Buchtipp.
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a_C | 11.04.2024 12:11 UhrVielen Dank für den Beitrag!
Offensichtlich ein sehr schönes Buch (leider auf Englisch). Da werde ich wohl zuschlagen.
Vielen Dank ans Baunetz fürs Aufmerksam machen auf dieses Werk! :)