Von Stephan Becker
Gestritten wird über Berlins historische Mitte schon seit Jahren, doch seit Februar läuft unter dem Slogan „Alte Mitte – neue Liebe“ der nächste Anlauf des Senats, sich über das Areal zwischen Fernsehturm und Schlossneubau zu verständigen. Was auffällt im sogenannten Dialogverfahren, bei dem sich die Bürger einbringen sollen: Mit großer Verve wird über die Vergangenheit und Zukunft des Ortes diskutiert, doch wenn es um die Gegenwart geht, wird meist nur die vermeintliche Leere und Unwirtlichkeit des Ortes beschworen.
Das klingt nach russischer Steppe, nach Eiswüste und Niemandsland. Nach einem Ort also, der für eine Nutzung durch Menschen keinesfalls zu gebrauchen ist und an dem schnell etwas geschehen muss. Und sei es durch die Errichtung eines neuen Stadtquartiers auf altem Grundriss, das als historisierende Konsumwelt enden dürfte und unter dem schließlich die letzten echten geschichtlichen Spuren begraben werden würden. Dieses Schlechtreden ist nicht nur Kalkül, sondern entspringt auch einer fundamentalen Unkenntnis der Gegebenheiten vor Ort: Am Verfahren Beteiligte geben offen zu, schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen zu sein.
Anlass genug für eine Gruppe von Studenten der TU Berlin, der Leere mittels einer Expedition auf den Grund zu gehen: Schon seit Anfang der Woche beschäftigt sich das Seminar „One Map – Gemeingut Leere“ des Chair for Urban Design von Jörg Stollmann mit dem wirklichen Leben zwischen Alex und Spree. Statt jedoch aus ferner Planer-Perspektive auf den Ort zu blicken, haben die beiden Dozentinnen Anna Heilgemeir und Dagmar Pelger eine direkte Kontaktaufnahme initiiert. Gezeichnet wird bei ihnen schon, aber 1:1 vor Ort, mit bunter Sprühkreide auf grauem Beton. Der Platz als Ganzes wird damit zu einer Karte, auf der verschiedene Informationsebenen für die Öffentlichkeit sichtbar werden. Welche Subkultur ist wo anzutreffen? Was waren wichtige politische Demonstrationen? Wo treffen sich die Anwohner und welche Blickbeziehungen zählen für sie? Wo fliegen die Vögel und wer pflegt die Rosen? Und was hat es mit der Choreographie der Monumente auf sich, also mit den Brunnen und Statuen, die hier gerne mal den Standort wechseln?
Das Wissen, das die Studenten zugleich auch ganz konventionell auf Papier dokumentieren, stammt nicht aus trockenen Analysen und historischen Stadtansichten, sondern aus Gesprächen vor Ort: mit den Emos und den Punks, den vielen Touristen und den Nachbarn aus der Platte, aber auch mit Expertinnen aus Politik, Wissenschaft und Kunst wie Katrin Lompscher, Annette Maechtel und Verena Pfeiffer-Kloss, die dem Platz verbunden sind. Und dabei zeigt sich: Die Leere ist keineswegs leer, im Gegenteil, der Platz ist eine Insel voller Aktivitäten, die anderswo in der touristisch und kommerziell längst durchoptimierten Mitte der Stadt keinen Platz mehr haben. Dass sich dieses blühende Biotop nicht vor Veränderungen wird schützen lassen wie anderswo seltene Fledermausarten, ist auch den Studenten bewusst. Was sie sich jedoch wünschen, ist eine Auseinandersetzung mit dem, was heute dort ist, als wesentliche Voraussetzung für das, was dort in Zukunft sein könnte.
Dass dieses Anliegen trotz aller Bemühungen um eine Bebauung des Platzes in Folge des Schlossneubaus in der Öffentlichkeit auf Wohlwollen trifft, zeigt das Ergebnis der ersten Bürgerwerkstatt: Die Freifläche solle unbedingt erhalten bleiben, war sich der Großteil der Beteiligten einig, als ein „Ort der Begegnung, Kommunikation und Verständigung“, als „städtisches Gemeingut, das inmitten der Großstadt Erholung und Entspannung“ biete. Damit bleibt also durchaus Grund zur Hoffnung, und zwar explizit auch für die Fledermäuse, die es im lichten Hain des Marx-Engels-Forums tatsächlich geben mag und die im Betondachstuhl des Schlosses wohl kaum einen neuen Platz finden würden.
In einer Abschlussveranstaltung vor Ort werden heute Abend, also am 31. Juli 2015, um 20 Uhr, die vorläufigen Ergebnisse der Seminars vorgestellt und diskutiert werden. Treffpunkt ist der Fuß des Fernsehturms mit Blick in Richtung des Neptunbrunnens.
Beteiligt waren die Studenten Alice Geletey, Kathrin Krell, Anna Kristin Vinkeloe, Lukas Pappert, Mathias Pudelko, Jens Schulze, Tilmann Teske und Martha Wegewitz sowie, als Impulsgeberin, Katharina Hagg.
Zum Thema:
www.stadtdebatte.berlin.de
www.cud.tu-berlin.de/gemeingut_leere
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Fred Konkret | 03.08.2015 20:52 UhrRelevanz
Dérives und mappings sind zwar nicht wirklich neu, lenken jedoch den Blick auf andere Zusammenhänge, was durchaus zu begrüßen ist!
Das Interessante ist dann, ob man sich durch die Beschäftigung mit dem Ort irgendwann nicht mehr von der Analyse lösen kann und jeder Spur eine Bedeutung beimisst, die sie vielleicht gar nicht hat.
Bedenkt man, dass der jetzige Ort durch einen radikalen Stadtumbau entstanden ist und die daraus entstandenen Qualitäten also durch eine Maßnahme losgetreten wurden, die vom heutigen Standpunkt eher zweifelhaft erscheint, so stellt sich die Frage, ob nicht fast jeder radikale Ansatz im Lauf der Jahre durch die Benutzung und "Inbesitznahme" des öffentlichen Raumes zwangsläufig immer auch Qualitäten schafft.
Klar, dass durch eine gute Planung diese leichter zu erreichen sind, als durch eine schlechte.
Letztlich kommt man trotzdem nicht darum sich zu fragen, was wirklich relevant für den Ort und die Stadt ist unter Einbezug aller Möglichkeiten.
Aber eigentlich kann sich die TU den Aufwand leider sparen: Am Ende gibt es wieder einen beschränkten Wettbewerb mit Vorgaben, die rein nach vermarktungspolitischen Aspekten entwickelt wurden, wie z.B. beim Potsdamer Platz oder dem Bauhaus Archiv. Für interessante Ansätze ist das Feuilleton zuständig, gebaut wird ohne sie.