Große Themen und präzise Blicke zeigen die aktuell laufenden Architekturfilmtage in Oslo. Das Programm des jährlichen Festivals führt unter anderem nach Tokio in das Auto von Ryue Nishizawa von Sanaa oder nach Dresden in die ideologischen Grabenkämpfe um die rekonstruierte Altstadt. Zwei, hier vorgestellte Beispiele, wie sich globale Begebenheiten im Detail abspielen können, beide auch hierzulande streambar:
„Tokyo Ride“
Ryue Nishizawa ist stolzer Besitzer eines Alfa Romeo Giulia 2000 GT Veloce. Und der eignet sich natürlich prächtig, um damit durch Tokio zu fahren. Die Filmemacher*innen Ila Bêka und Louise Lemoine lieben wiederum ungewöhnliche Perspektiven auf Architektur und Stadt. So war es kein Wunder, dass sich die vier – Ryue, Ila, Louise und Giulia – eines Tages zu einer kleinen Spritztour verabreden würden. Doch nach Nishizawas Einladung vergingen zehn Jahre bis der Termin stand. Und als es schließlich soweit war, regnete es in Strömen. Schlechte Voraussetzungen für einen Filmdreh, nicht zuletzt angesichts der notorisch beschlagenden Scheiben des kleinen Coupés, das einst für ein ganz anderes Klima entwickelt wurde? Bêka & Lemoine wären nicht Bêka & Lemoine, gelänge ihnen auch unter solchen Bedingungen nicht trotzdem ein kleines Meisterwerk. „Tokyo Ride“ ist ein lakonischer Film über das Leben in der großen Stadt, zwischen Tempel und Büro, Garstube und Autobahn, mit einem Soundtrack aus blubbernden Motorengeräuschen und italienischen Opern. Und es ist ein Portrait von Ryue Nishizawa, der – in Schwarzweiß, am Steuer des Oldtimers – oft wirkt, wie ein vergessener Star der japanischen Nouvelle Vague. Zusammen driften sie durch das Häusermeer, besuchen Kazuyo Sejima oder treffen alte Bekannte wie Herrn Moriyama, in dessen berühmtem Haus, von Nishizawa entworfen und schon früher von Bêka & Lemoine portraitiert, der Film schließlich endet.
Tokyo Ride
Ila Bêka & Louise Lemoine
90 Minuten, Englisch
Frankreich 2020
VoD über Vimeo
„Wohin mit der Geschichte?“
Womöglich braucht es die Distanz eines dänischen Filmemachers, um ein vermintes Feld wie die Debatte um die Rekonstruktion kriegszerstörter Bauwerke in Deutschland derart unvoreingenommen und gleichsam konzentriert vor die Kamera zu bringen. Hans Christian Post – der in Kopenhagen und Berlin lebt und sich in seinen letzten Dokumentarfilmen mit dem Wandel Berlins seit der Wende auseinandersetzte – widmet sich in „Wohin mit der Geschichte?“ der rekonstruierten Dresdner Altstadt. Mit der 2005 wiedereröffneten Frauenkirche ist dieser Ort ein Sinnbild für die politische Komplexität der Geschichtsaufarbeitung in Deutschland. Sie ist ein Symbol der Wiedervereinigung, für das Gedenken an die schweren Bombenangriffe 1945. Sie steht aber auch für eine Geschichtsklitterung und für ein Vergessen einer schwierigen Vergangenheit. Stets mit der Dresdner Altstadt im Bild lässt Post mit überraschender Offenheit unterschiedlichste Stimmen zu Wort kommen: einen Pfarrer und Überlebenden der Bombenangriffe, mehrere Stadtplaner und Architekturhistoriker, eine Sprecherin der jüdischen Gemeinde, Vertreter der NPD wie der AfD und linke Aktivistinnen. Prophetischer Auftritt: Stephan Trüby, der vor der Kulisse des Berliner Alexanderplatzes darüber spekuliert, ob dies nicht der nächste Schauplatz für die Rekonstruktion einer Altstadt sein könnte. Behutsam aber doch eindringlich spitzt Hans Christian Post die verschiedenen Perspektiven zu der politischen Frage zu, ob das eine Erinnern in Form rekonstruierter Bauwerke nicht zum Ausblenden des anderen Erinnerns führt – und dadurch letztlich eine rechte Gedächtniskultur entsteht.
Wohin mit der Geschichte?
Hans Christian Post
Deutschland/Dänemark 2020
63 Minuten, Deutsch
Post Behrens Produktion/Bundeszentrale für politische Bildung
Kostenlos streambar über www.bpb.de/mediathek
Auswahl und Texte: Stephan Becker und Sophie Jung
Zum Thema:
Das ganze Filmprogramm in Oslo unter www.arkitekturfilm.no.