How Will We Live Together? Die 17. Ausgabe der Architekturbiennale in Venedig wird am morgigen 22. Mai eröffnet. Sie findet bis 21. November in den Giardini, im Arsenale und verschiedenen weiteren Orten statt. Wer hätte ahnen können, dass die von Hauptkurator Hashim Sarkis aufgeworfene Fragestellung plötzlich eine solche Aktualität bekommt? Durch die mehrfache Verschiebung der Biennale hatten die Kurator*innen der Pavillons ein Jahr Zeit, ihr Programm nachzujustieren – im Sinne eines erweiterten Architekturfestes vor allem durch digitale (Zusatz-)Inhalte. Ein erster persönlicher Rundgang, geleitet von der Frage: Bei welchen Pavillons genügt der virtuelle Besuch und welche sollte man doch vor Ort erleben?
Von Laura M. Lampe und Alexander Stumm
Auf den von Touristen entleerten Promenaden haben die Venezianer*innen augenscheinlich das Jogging für sich entdeckt. Vom mäßig belebtem Besucherstrom der Preview-Tage rund um die Giardini lassen sie sich jedenfalls nicht beeindrucken. Erst in den letzten Wochen hat Italien seine Restriktionen gelockert. Die Architekturbiennale ist die erste kulturelle Großveranstaltung des Landes seit dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie. Pressetermine sind auf kleine Runden begrenzt, Veranstaltungen finden selbstverständlich keine statt. Was schnell auffällt: Die Länderpavillons nehmen vermehrt selbstbewusst-kritisch die Verantwortung der Architekturdisziplin in den Fokus und verharren weniger in Designfragen. Das ist sicherlich die Folge eines erstarkenden Bewusstseins und einer zunehmenden Sensibilisierung um die globalen Konsequenzen des eigenen Handelns im Zeitalter des Anthropozäns.
Viele Pavillons präsentieren sich verstärkt im digitalen Raum. Davon profitieren nicht nur alle Interessierten, die wegen Covid-19 nicht nach Venedig pilgern können, sondern auch diejenigen, für die eine solche Reise aus finanziellen oder organisatorischen Gründen ohnehin nicht zur Debatte steht. Die Biennale wird damit ein gutes Stück demokratischer. Man fragt sich im Nachhinein, warum es für einen solchen Schritt erst einer Pandemie bedurfte. Für alle, die sich den obligatorischen Venedigbesuch dennoch nicht entgehen lassen möchten, könnte der September ein guter Monat sein. Hier sind mit Blick auf steigende Impf- und sinkende Inzidenzzahlen vermehrt Veranstaltungen und Midissagen geplant.
Auch wenn Corona in den Ausstellungen weitgehend unbenannt bleibt, hat manche Themenwahl an Aktualität gewonnen, während andere wie aus einer anderen Zeit wirken. Persönlicher Favorit: der Österreichische Pavillon. Die Kuratoren Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer nehmen den Plattformkapitalismus ins Visier und öffnen den Pavillon als Diskursraum: Platform Austria ist eine präzise Analyse diverser Problemlagen der Digitalisierung, die – so die These – in einen „Plattform-Urbanismus“ münden. Gemeint sind damit verschiedene Prozessen „mit denen das soziale Leben in Städten zum Zweck von privater Kapitalanhäufung neu gestaltet“ wird. Der Pavillon besticht nicht zuletzt durch die systematische Verschränkung der fast klassisch als Gemäldegalerie inszenierten Ausstellung vor Ort und zahlreichen Onlineangeboten sowohl über platform-austria.org als auch die sozialen Netzwerke. Mit letzteren lässt sich der Pavillon partizipativ weiterentwickeln.
Der Niederländische Pavillon, kuratiert von Francien van Westrenen (Het Nieuwe Instituut, Rotterdam), kontert die Fragestellung der Biennale mit einer Gegenfrage: Who is We? Der Beitrag rührt damit klug an den komplexen (Macht-)Mechanismen von Inklusion und Exklusion. Es geht unter anderem um Migration, Patriarchat und das Zusammenleben mit nicht-menschlichen Akteuren – ein Appell an ein planetarisches Verständnis des Miteinanders. Die Rauminstallation aus semitransparenten und farbig gemusterten textilen Raumtrennern leitet die Besucher*innen spielerisch fließend durch die Ausstellung. Die Inhalte sind zudem ab sofort über whoiswe.nl zugänglich.
Die Pandemie ist und bleibt unberechenbar und ist noch längst nicht besiegt. Deswegen hat der Australische Pavillon frühzeitig die Notbremse gezogen und tritt dieses Jahr gar nicht physisch in Venedig in Erscheinung. Das gesamte Programm findet sich online auf inbetween2021.com.au.
Auch im Deutschen Pavillon verpasst man nichts, wenn man nicht nach Venedig kommt. Denn er bleibt bis auf einige an die Wände geplottete QR-Codes leer und wird erst in seiner virtuellen 1:1-Version eigentlich erlebbar. Über das überarbeitete inhaltliche Konzept von 2038 The New Serenity – Die Neue Gelassenheit berichteten wir schon im März, eine ausführliche Besprechung folgt nächste Woche. Der Pavillon wird heute, 21. Mai 2021 von 16–18 Uhr auf 2038.xyz mit einer virtuellen Zeremonie eröffnet.
Der Belgische Pavillon geht den entgegengesetzten Weg und kommt vollkommen ohne Verweise ins Virtuelle aus. Composite Presence, kuratiert von Dirk Somers (Bovenbouw Architectuur, Antwerpen), zeigt zwei „Sammlungen“ von 45 Architekturbüros, die sich dem Thema des Capriccio auf ebenso fantasievoller wie konkreter Weise nähern. Die erste Sammlung präsentiert farbige Modelle aus Holz von Gebäuden flämischer Architekt*innen im ungewohnten Maßstab 1:15, die durch eine Reduktion der Details eine ästhetisch überzeugende Sprache finden. Die zweite Sammlung stellt Collagen internationaler Architekturbüros aus, bei denen sich Szenarien von Stadtlandschaften auf poetisch-spekulative Weise mit Architekturen verweben – ein gelungenes Pendant zu den raumgreifenden Modellen.
Der Schweizer Pavillon, letztes Mal Gewinner des Goldenen Löwen, widmet sich in Oræ – Experiences on the Border den eidgenössischen Grenzen. Er stellt damit die Peripherie ins Zentrum und möchte gängige Denkmuster von Beschränkungen und Durchlässigkeit in Frage stellen. Was viel Potenzial gehabt hätte, bleibt leider an Oberflächlichkeiten hängen.
Der Goldene Löwe wird traditionell am morgigen Eröffnungssamstag vergeben. Die Entscheidung trifft die Jury mit Präsidentin Kazuyo Sejima (Japan) sowie Sandra Barclay (Peru), Lamia Joreige (Libanon), Lesley Lokko (Ghana, Schottland) und Luca Molinari (Italien). Wie um das Feuer im kalten Pandemiewinter anzuschüren, hat Sarkis bereit zwei Goldene Löwen für ein architektonisches Lebenswerk verliehen: im März postum an Lina Bo Bardi und im April an Rafael Moneo.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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STPH | 25.05.2021 14:17 Uhr...
Ist so ähnlich wie die Kunst, die im virtuellen Konzeptraum verschwindet. Noch mehr ist die Architekturbiennale wie ein Loch im schönen Venedig. Architektur ist gestaltetes hier und jetzt, konkreter Raum und geradezu das Gegenstück zur allgegenwärtigen Denkblase. Insofern ist der leere deutsche Pavillon mit Vertröstung auf das Netz und das Jahr 2038 eine Fiktion und eben kein hier und jetzt. Hier und jetzt und Ausstellungsstück ist dadurch, wohl unfreiwillig, das Gestern in Form des neoklassizistischen deutschen Pavillons, so mal uninterpretiert in Reinform zu erleben. Auch eine Reise wert und Venedig allemal.
Vielleicht ist die ganz konkrete Leere im Pavillon ja symptomatisch und das Ausstellungsstück an sich. Einfach leergeräumt.