Es wäre unmöglich, die Achtzigerjahre auf die Postmoderne zu reduzieren. Das Ausmaß architektonischer Vielfalt, die das gesamtdeutsche Bauerbe der Vorwendedekade auszeichnet, zeigen Carina Kitzenmaier und Matthias Noell in der Publikation Tendenzen der 80er-Jahre. Architektur und Städtebau in Deutschland auf. In dem Band, der gemeinsam mit Studierenden der Berliner Universität der Künste erarbeitet wurde und in der Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz erschienen ist, stellt die „Suche nach Geschichte“ demnach nur eine von acht Tendenzen dar. Zu gleicher Zeit, konstatieren die Projektverantwortlichen, hätten auch Themen wie „Technologie und Ökologie“ oder „Partizipation, Selbstbau, Anarchie“ Konjunktur gehabt.
Der Ansatz, anhand von Tendenzen für Orientierung zu sorgen statt durch strenge Kategorien voreilig den Blick zu verengen, führt Noell im einführenden Essay auf die Erfahrungen der Vergangenheit zurück. So habe sich in den letzten beiden Jahrhunderten gezeigt, dass „Kategorisierungen und Klassifizierungen niemals den Denkmalwert begründen sollten, da hier die Gefahr liegt, das nicht in gängige und lieb gewordene (Stil-)Schubladen passende Material kurzerhand als untypisch und daher als wertlos zu betrachten.“
Folglich finden sich unter den Beispielen auch etliche Projekte, die nicht allein einer der beschriebenen Tendenzen entsprechen. Dass das IBA-Projekt für das Frauenstadtteilzentrum Schokoladenfabrik in Berlin-Kreuzberg, durch die Architektinnengruppe Planschok konzipiert, überwiegend in Selbsthilfe von Frauen umgesetzt wurde, qualifiziert es zum Beispiel als bauliches Empowerment. Zu gleicher Zeit manifestiert sich in der Regenwassernutzung oder auch im Einsatz von Sonnenkollektoren ein ökologischer Modellcharakter.
Unter den vorgestellten Projekten finden sich auch solche, die ganz außerhalb von professionellen Strukturen entstanden sind. Gemäß der Überzeugung, dass Architektur nicht nur das Ergebnis eines Bauvorhabens sein kann, werfen Kitzenmaier und Noell am Beispiel einer Hausbesetzung in Halle an der Saale die Frage auf, ob Architektur auch als „Handlungsform“ zum Gegenstand denkmalpflegerischer Arbeit werden kann. Ebenso ermutigt der Band durch die Berücksichtigung des teilweise rekonstruierten Hafentempels im Archäologischen Park der niederrheinischen Stadt Xanten zu einer Debatte darüber, was ein Denkmal ist oder sein kann.
Indessen lässt sich auch unter den postmodernen Bauten, deren Autor*innen in vielen Fällen eindeutig zu benennen sind, allerhand Überraschendes entdecken. Die Apotheke, die nach Plänen des Florentiner Büros Superstudio im ostwestfälischen Lübbecke entstand, gehört ebenso dazu wie der segmentübergiebelte Kiosk am Bratwurstglöck’l in Weimar. Nebst dem bekannteren Leipziger Bowlingtreff, dessen Eingangsbauwerk von Winfried Sziegoleit entworfen wurde, kann das Büdchen als seltene Ausnahme einer „Alltagspostmoderne“ gelten, die, wie Kirsten Angermann in einem der vorangestellten Aufsätze erläutert, den Wohnungsbau der späten DDR bestimmt habe.
Einerseits lädt der Reichtum der jeweils mittels Bildern und Planzeichnungen porträtierten Projekte, die in knappen Texten vorgestellt werden, zur Auseinandersetzung mit den politisch-ökonomisch-kulturellen Hintergründen ein, die die Entstehung der verschiedenartigen Bauten begünstigt haben. Andererseits schaffen Kitzenmeier und Noell in einer Zeit, die den voreiligen Abbruch bestehender Bauten begünstigt, ein Bewusstsein für den Wert von Architektur. So wirken doch die Beispiele der vorgestellten Epoche oft unzeitgemäß und gleichzeitig ist ihnen noch kein nostalgisches Wohlwollen zuteil geworden, so scheint es.
Ist es derzeit oftmals der Verweis auf den Klimaschutz, der als Argument für den Bauwerkserhalt vorgebracht wird, belegt die Publikation eben auch den architektonischen Wert, der viele Bauten der Achtzigerjahre auszeichnet. Wenn aber die Relevanz dieses baulichen Erbes vielfach noch unerkannt geblieben ist, mag das auch daran liegen, dass sich die Architekturdekade – so legt es zumindest die Publikation nahe – vielleicht noch weniger auf einen Nenner bringen lässt als die vorhergehenden.
Text: Achim Reese
Tendenzen der 80er-Jahre. Architektur und Städtebau in Deutschland
Carina Kitzenmaier, Matthias Noell
Gestaltung: Carina Kitzenmaier, Buero Steffi Holz
208 Seiten
Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz, Berlin 2022
ISSN 0723-5747
kostenfrei
Zum Thema:
Die Publikation kann auf der Website des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz als PDF heruntergeladen oder kostenfrei bestellt werden.