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27.04.2022

Buchtipp: Perlen der Unabhängigkeit

Architectures of Decolonization in South Asia 1947-1985


Die Kataloge aus dem Museum of Modern Art in New York sind von Natur aus schon immer etwas größer. Frei nach dem Motto big apple, big Selbstverständnis wird gerne die ganze Welt betrachtet, das ist schon seit den Zeiten von Philip Johnson so. Wenn es heute doch etwas kleiner sein muss, dann sollten es immer noch einzelne Kontinente sein wie etwa bei der Ausstellung „Latin America in Construction. Architecture 1955–1980“ vor sieben Jahren.

Die aktuelle Ausstellung und ihr gleichnamiger Katalog „The Project of Independence: Architectures of Decolonization in South Asia 1947–1985“ bilden keine Ausnahme. Diesmal widmet man sich Asien. Vier nicht gerade kleine Länder werden gemeinsam betrachtet: Indien, Pakistan, Bangladesch sowie Sri Lanka und ihr (architektonischer) Weg in die Unabhängigkeit nach dem Ende von Britisch-Indien 1947/48. Fand die gesellschaftliche Aufbruchstimmung in diesen jungen asiatischen Nationen ein dauerhaftes Bild in Beton, Stahl und Backstein?

Das ist ein so großer Forschungstopf, dass man schon kurz staunen muss. Insgesamt ergibt das immerhin grob geschätzte 4,3 Millionen Quadratkilometer Landfläche, auf denen aktuell um die 1,78 Milliarden Menschen leben, dazu ein Betrachtungszeitraum von 38 Jahren. Hätte der Fokus auf Indien nicht genügt für einen MoMA-Katalog? Folgen Buch und Ausstellung – trotz aller Bekenntnisse zu nicht-westlichen Blickweisen – nicht eben gerade doch wieder allzu sehr der brutalen Kolonialgeschichte des Westens, der auch auf dem indischen Subkontinent unbefangen neue Grenzlinien kreuz und quer durch Völker, Kulturen und Religionen zog, aus denen bis heute andauernde Konflikte entstanden sind? Warum wird die Moderne, die auch im britisch-indischen Empire schon lange vor 1947 eingesetzt hatte, nicht unabhängig von der westlichen Kolonialgeschichte erzählt?

Diese Zweifel an den Prämissen des Buchs müssen erst einmal verdaut werden. Die Einleitung der Kuratorin Anoma Pieris und des hauseigenen MoMA-Kurators für Architektur und Design Martino Stierli geht eher locker über solche Fragen hinweg. Auch das Ende des Betrachtungszeitraums im Jahr 1985 ist eher lose formuliert und wird durch das immer stärkere Aufkommen von regionalistischen Tendenzen in der Architektur der Länder definiert, während die Verheißungen der westlich dominierten Moderne sich gleichzeitig als Utopien entpuppten.

Aber dann nimmt das Buch langsam Fahrt auf und die anfänglichen Zweifel sind schnell vergessen. Nicht, weil sie ausgeräumt werden, sondern weil sie in einer mitreißenden Flut von großartigen Erzählungen, Themen, Personen und Projekten weggespült werden. In einem extra breit gesteckten Feld lässt sich eben vieles unterbringen – aber das ist hier durchweg hochklassig. Neun Essays widmen sich verschiedenen Aspekten der Modernisierung unter den neuen Bedingungen der Selbstständigkeit. Nonica Datta erzählt von Neustadtplanungen nach 1947, Peter Scriver und Amit Srivastava von neuen Infrastrukturen und Industrien. Kazi Ashraf betrachtet die Offenheit des modernen Hauses unter tropischen und subtropischen Bedingungen, Farhan Karim den Aufbau von Architekturschulen. Unbedingt lesenswert sind die Essays des indischen Architekten Rahul Mehrotra über Wohnungsbauprojekte und von Mrinalini Rajagopalan zu Fragen des Denkmalschutzes und der Bewahrung auch des kolonialen (Architektur-)Erbes.

Es folgt ein Foto-Essay des indischen Fotografen Randhir Singh, der ausgesuchte Gebäude in ihrem heutigen Zustand fotografierte. Was davon in Pakistan, Bangladesch oder Sri Lanka steht, verschwimmt bald im größeren Bild einer länderübergreifenden, heroischen Moderne, die vor keinem Maßstab zurückschreckte. Der vielleicht stärkste Teil findet sich am Schluss des Buches: eine gut 170 Seiten umfassende, detaillierte Untersuchung von 17 ausgewählten Projekten. Louis Kahn und Le Corbusier kommen dabei nur am Rande oder als Referenzen vor. So wird der Blick frei auf Bauten von Minnette da Silva, Muzharul Islam, Charles Correa, Habib Rahman, Balkrishna Doshi sowie dem omnipräsenten Genie-Ingenieur Mahendra Raj. Die Auswahl reicht vom Einfamilienhaus bis zur Stadtplanung – von Geoffrey Bawas wegweisendem Polontalawa Bungalow zu Yasmeen Laris Low-Budget-Selbstbau-Siedlung Anguri Bagh in Lahore.

Ja, dieses Buch ist eine Tour de Force durch 38 Jahre und über 4,3 Millionen Quadratkilometer. Aber die Projekte und Protagonist*innen, die es dabei zu entdecken gibt sowie die herausragende Qualität der Essays, der Fotos und des aus allen Winkeln herbeigetragenen Archivmaterials machen es locker wett, die eigenen Zweifel hinunter zu schlucken und sich einfach diesen hier so locker zusammen getragenen Perlen der Moderne, die auf den Trümmern des britischen Kolonial-Empires wuchsen, hinzugeben.

Text: Florian Heilmeyer

The Project of Independence: Architectures of Decolonization in South Asia, 1947–1985

Martino Stierli, Anoma Pieris und Sean Anderson (Hrg.)
Gestaltung: Studio Lin, New York
Englisch
248 Seiten

Museum of Modern Art, Department of Publications, New York 2022
ISBN 978-1-63345-124-7
70 Euro


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Hall of Nations im Pragati Maidan, Neu-Delhi. Entwurf: Raj Rewal mit Mahendra Raj. Gebaut 1970-72, abgerissen 2017. Foto von 2015

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Der Hindustan Lever Ausstellungspavillon, Pragati Maidan in Neu-Delhi, 1961. Entwurf: Charles Correa und Mahendra Raj. Das Gebäude wurde abgerissen.

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Indian Institute of Management Bangalore (IIMB) in Bengaluru, Indien. Entwurf: Balkrishna Doshi, erbaut 1973-83. Foto von 2021

Indian Institute of Management Bangalore (IIMB) in Bengaluru, Indien. Entwurf: Balkrishna Doshi, erbaut 1973-83. Foto von 2021

Polontalawa Management Bungalow in Polontalawa, Sri lanka. Entwurf: Geoffrey Bawa mit Ulrik Plesner, erbaut 1963-65. Foto von 2021

Polontalawa Management Bungalow in Polontalawa, Sri lanka. Entwurf: Geoffrey Bawa mit Ulrik Plesner, erbaut 1963-65. Foto von 2021

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