Am Samstag eröffnet die 18. Ausgabe der Architekturbiennale in Venedig. Unter dem Motto „The Laboratory of the Future“ wird die aus Ghana stammende, international vielfach agierende Kuratorin Lesley Lokko einen hoffentlich lehrreichen Blick auf Afrika werfen. In den globalen Süden haben Architekt*innen immer wieder geschaut – prominent etwa im Kontext der Dekolonialisierung des Maghreb nach dem Zweiten Weltkrieg, als die europäischen Modernisten erste Schritte eines spezifischen „Learning from …“ gingen, das freilich noch stark in kolonialen Denkfiguren verfangen war.
Eigentlich nur logisch, dass auch die Postmoderne in den Süden blickte. Unter anderem geschah dies auf der zweiten Architekturbiennale 1982/83, die sich der islamischen Architektur widmete. Sie wurde von Paolo Portoghesi geleitet, der in der Frühzeit der Biennale eine entscheidende Rolle gespielt hat. Gegen die programmatisch postmoderne Strada Novissima der ersten Biennale „La presenza del passato“ (Die Gegenwart der Vergangenheit) hatte die zweite Ausgabe mit dem Titel „Architettura nei Paesi Islamici“ (Architektur in islamischen Ländern) freilich keine Chance. Das hat auch mit der Überlieferungslage zu tun. Die Begleitpublikation erschien nur auf Italienisch. Und Portoghesi selbst legte später keine großen Wert mehr auf die Ausstellung, sorgte also nicht dafür, dass sie weiter diskutiert wurde oder im Gedächtnis blieb.
Nun macht eine charmante, handlich und in knallig gelbem „Pseudo-Halbleinen“ gebundene Publikation die zweite Biennale neu greifbar. In Architecture in Islamic Countries. Selections from the Catalogue for the Second International Exhibition of Architecture 1982/83 sind Protoghesis Einleitung des damaligen Katalogs sowie die Essays von Mehdi Kowsar und Udo Kultermann erstmals auf Englisch zu lesen. Nachvollziehbar wird das Suchen und Changieren der Autor*innen zwischen Rezeption auf Augenhöhe und einem unterschwelligen westlichen Überlegenheitsgefühl, schreiben Asli Çiçek und Véronique Patteeuw im abschließenden Text des 120 Seiten schmalen Paperbacks. Zusammen mi Esra Akcans Aufsatz „An Unlikely Decolonizer“ und dem Einleitungstext von Herausgeberin Helen Thomas wird das bisher weitgehend unbeachtete Originalmaterial somit besser verständlich.
Architecture in Islamic Countries ist der erste Band einer neu begründeten Publikationsreihe des gta Verlags namens source material. Die Reihe möchte schwer greifbare, historische Materialien zugänglich machen beziehungsweise erstmals ins Englische übersetzen. Die einzelnen Bände werden sich am Format des Originalmaterials orientieren. Selbstverständlich wird dieses immer um einen kritischen Kommentar ergänzt, der gestalterisch abgesetzt wird. Die zweite Publikation der Reihe wird sich ebenfalls mit transkulturellen Wahrnehmungen beschäftigen und die Reise von Walter und Ise Gropius nach Japan im Jahr 1954 anhand langer und detaillierter Briefe Ises diskutieren.
Text: Gregor Harbusch
Architecture in Islamic Countries. Selections from the Catalogue for the Second International Exhibition of Architecture 1982/83
Helen Thomas (Hg.)
Englisch
120 Seiten
gta Verlag, Zürich 2022
ISBN 978-3-85676-436-4
29 Schweizer Franken
Zum Thema:
Das Buch wird morgen, Donnerstag, den 18. Mai 2023 (18–20 Uhr) in der Buchhadlung bruno, Dorsoduro 2729, 30123 Venedig präsentiert.
Seit kurzem ist unsere Biennale-Sonderseite online, die alle Meldungen zu Venedig 2023 versammelt.