Kommende Woche startet zum fünfzehnten Mal das Architecture Film Festival Rotterdam AFFR, das sich seit seiner Gründung vor über 20 Jahren längst als größtes europäisches Festival seiner Art etabliert hat. Zum diesjährigen Thema „Contested Space“ werden vom 4. bis 8. Oktober 2023 annähernd 100 Filme gezeigt und diskutiert. Sie setzen sich – angesichts Bevölkerungswachstums, steigender Immobilienpreise oder in Folge des Klimawandels – mit der umkämpften Ressource (Lebens-) Raum auseinander. Drei Schwerpunkte gliedern das Programm: „Trash“, „Indian Nights“ und „Radical Times“ mit Filmen, die um Utopien und Initiativen der 1960er und 1970er Jahre kreisen. Wir haben zwei Filme ausgewählt.
„Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh“
Für ihren Dokumentarfilm über Chandigarh wurden Karin Bucher und Thomas Karrer bereits im Sommer beim Venice Architecture Film Festival mit dem Preis für den besten Film ausgezeichnet. Le Corbusier entwarf die Planstadt aus dem Geist des Idealismus und als Symbol der Freiheit im jungen Indien nach Ende der Kolonialherrschaft 1947.
70 Jahre nach der Grundsteinlegung Chandigarhs 1952 als neuer Hauptstadt des Punjab begleiten die beiden Schweizer Filmemacher*innen Kulturschaffende, Architekt*innen und Bewohner*innen durch das nicht unumstrittene Gesamtkunstwerk. Sie fragen nach dessen Entstehung, der Aneignung, dem Erbe der avantgardistisch-westlichen Vision im Kontext indischer Kultur und danach, was aus diesem „Labor für ein neues Zusammenleben“, wie es im Film heißt, für das gegenwärtige und zukünftige Bauen – auch in Europa – zu lernen ist.
Entstanden ist ein vielschichtiges Portrait der als Gartenstadt am Fuß des Himalayas konzipierten „Beautiful City“ – informationsreich, erhellend und atmosphärisch zugleich. Wer mit Chandigarh bisher in erster Linie die ikonischen Bauten des als UNESCO-Welterbe gelisteten Capitol Complex assoziierte, wird fasziniert sein von dieser einzigartigen, in 56 Sektoren rechtwinklig angelegten, komplett durchgestalteten Stadt der Moderne mit ihren Freiräumen, Parkanlagen, Schwimmbädern und geschützten Bäumen, mit ihren Kulturbauten, Universitäten und Gotteshäusern. Ebenso von ihrem fußgänger- und fahrradfreundlichen Straßensystem und den als Nachbarschaften funktionierenden Wohnstraßen mit 14 unterschiedlichen Haustypen.
Der Film thematisiert aber auch die allmähliche Überformung der gebauten Utopie, die Schließung des Parlamentsplatzes für die Öffentlichkeit infolge eines Attentats und die – entgegen dem Edikt von Chandigarh – an den Rändern entstehenden Slums und Hochhaussiedlungen
Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh
Karin Bucher und Thomas Karrer
Schweiz 2023, Englisch/Deutsch/Hindu
84 Minuten
(Der Film läuft derzeit in den Schweizer Kinos, der Kinostart in Deutschland ist geplant. Am Dienstag, 10. Oktober 2023, wird er zudem in der BHROX bauhaus reuse in Berlin im Rahmen eines Gastbeitrags des Prager Filmfestivals zu sehen sein.)
„Die Mies van der Rohes“
Neben dem thematischen Überbau „Contested Space“ sind auch wieder biografische Filme Teil des Programms, etwa über Balkrishna Vithaldas Doshi, Aldo Rossi oder Karl Schwanzer. In diese Reihe gehört auch die Dokumentation von Sabine Gisiger, in der die Schweizer Filmemacherin die Frauen im persönlichen Umfeld von Mies van der Rohe porträtiert und damit eine kaum bekannte Sphäre ausleuchtet. Im Mittelpunkt stehen die Erinnerungen der 1914 geborenen und ältesten Tochter Georgia van der Rohe, die 2008 über neunzigjährig in Berlin-Zehlendorf starb.
Dramaturgisch ist der Film als fiktives Interview inszeniert, in dem die 75-jährige Georgia – verkörpert von Schauspielerin Katharina Thalbach – auf das Leben der Familie zurückblickt: Auf die Mutter Ada Bruhn, Industriellentochter und Tanzschülerin bei Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau und ihre lebenslange Freundschaft mit der Ausdruckstänzerin Mary Wigman. Auf die frühe Trennung der Eltern, Mies’ Beziehung mit der Designerin Lilly Reich und seine Emigration nach Amerika. Und auch auf Georgia van der Rohes eigenen Werdegang als Schauspielerin und das Verhältnis der drei Schwestern zu ihrem Vater, die trotz aller Distanz immer mit ihm verbunden blieben.
Auf der Grundlage von Origianalzitaten der Protagonist*innen aus Briefen, Reden oder Tagebüchern rekonstruiert der Film die Jahrzehnte von der frühen Moderne über die 1920er und die 1930er Jahre bis zur Nachkriegszeit als faszinierende Collage aus zeitgenössischem Film- und Fotomaterial, angereichert aus dem Fundus des privaten Familienarchivs.
Die Mies van der Rohes
Sabine Gisinger
Schweiz 2023, Deutsch/Englisch
90 Minuten
(Der Film wird bei verschiedenen Streamingdiensten angeboten.)
Auswahl und Texte: Ulrike Alber-Vorbeck
Zum Thema:
Das ganze Programm des Architecture Film Festival Rotterdam 2023, das vom 4. bis 8. Oktober stattfindet, gibt es unter affr.nl
Auf Karte zeigen:
Google Maps