„Das Leben ist offensichtlich mehr als nur Architektur“, schreiben Momoyo Kaijima und Yoshiharu Tsukamoto von Atelier Bow-Wow. Das ist ja klar. Wie aber kann die Vielzahl von Situationen und Verhaltensweisen, die einerseits in die Gestaltung von gebauten Räumen einfließen und die anderseits daraus entstehen, sinnvoll kartographiert werden? Das ist eine Frage, mit der sich Kaijima und Tsukamoto seit der Gründung ihres eigenen Büros beschäftigen und aus der zum Beispiel die wegweisenden Bücher „Pet Architecture“ und „Made in Tokyo“ (beide 2001) entstanden.
In den beiden Büchern dokumentierten sie in wunderbar filigranen Zeichnungen Häuser, die von ihren Bewohnern clever umgebaut oder umgenutzt beziehungsweise die an besonders engen Stellen Tokios passgenau eingefügt wurden. Es sind Bücher, die jeder architekturinteressierte Mensch besitzen sollte. Sie sind ebenso schön wie praktisch und inspirierend – und Atelier Bow-Wow machten sich damals zu legitimen Nachfolgern sowohl von Bernard Rudofskys Beobachtungen einer „Architektur ohne Architekten“ als auch von „Learning von Las Vegas“.
Die zeichnerischen Erkundungen der Stadt übertrugen Atelier Bow-Wow als nächstes auf ihre eigenen Pläne. Sie fingen an, ihre akribischen Grundrisse und Schnitte so mit Perspektiven zu kombinieren, dass Menschen darin auftauchen konnten, die die kommenden Räume mit alltäglichem Leben füllten: die Wäsche waschen, von Zimmer zu Zimmer laufen, ein Buch aus dem Regal nehmen, die Blumen gießen oder einfach nur aus dem Fenster schauen. Die Zeichnungen wurden zu Erzählungen, ein bisschen wie die Wimmelbilderbücher von Ali Mitgutsch – nur nicht so voll.
Es geht aber nicht nur ums Erzählen, sondern auch um die Überlagerung verschiedener Informationsebenen in einer Zeichnung. Es geht darum, den gebauten Raum nicht von seiner Nutzung und Adaption durch die Menschen, die mit ihm leben müssen oder dürfen, zu trennen. In ihrem vor Kurzem erschienenen Buch „Architectural Ethnography“ versammeln Atelier Bow-Wow nun 42 Arbeiten von Architekten aus der ganzen Welt, die – auf äußerst unterschiedliche Arten und zu äußerst verschiedenen Themen – das gleiche tun. Da werden Städte in Polen, Indien, Frankreich oder Schottland erforscht, selbstgebaute Hüttendörfer, gewaltige Flüchtlingscamps oder die Barrikaden auf dem Maidan akribisch dokumentiert.
Jede Arbeit wird auf einer Doppelseite gezeigt, was leider manchmal bedeutet, dass die Zeichnungen in dem von Integral Lars Müller gestalteten Buch viel zu klein wiedergegeben werden. Ein größeres Format hätte man diesem sehr handlichen Buch doch gewünscht. Aber zur Analyse jeder Arbeit gibt es eine weitere Doppelseite, auf der die Herausgeber Details aus den Zeichnungen ausgeschnitten, vergrößert und erklärt haben, warum sie diese wichtig finden. Das liest sich wunderbar und offenbart viele Entdeckungen, die auf den Zeichnungen möglich sind. So werden wir Leser vom flüchtigen Drüberschauen zum Ganz-genau-Hinschauen gebracht und machen unsere eigenen Entdeckungen. Und genau so wird „Architectural Ethnography“ zu einem ausgesprochen anregenden Buch – sowohl was das genaue Betrachten als auch was das Selber-Zeichnen-Wollen angeht. Denn das eine bedingt ja das andere.
Text: Florian Heilmeyer
Architectural Ethnography
Momoyo Kailima / Laurent Stalder / Yu Iseki (Hg.)
200 Seiten
Englisch
Toto Publisher, 2018
ISBN 978-4-88706-371-6
20 Euro
Zum Thema:
Das Buch ist die offizielle Begleitpublikation zum japanischen Pavillon auf der Architektur-Biennale in Venedig 2018. Den BauNetz-Film zum Pavillon sehen Sie hier.