Um zu begreifen, welche Brutalität ein Steinbruch für einen Berg bedeutet, lohnt es sich, eine Sprengung im Detail anzusehen. Am besten aus der Perspektive einer vorderen Kinosaalreihe. In Victor Kossakovskys Dokumentarfilm Architecton stürzen dann teils riesige Steine und Geröll, Erd- und Felsbrocken, zerfetztes Gras, Würmer und glitschige Schlammmassen minutenlang mit betäubendem Krach auf das Publikum zu. Eine Gewalttat wird hier gezeigt: die des Menschen an der Natur.
Der im Wettbewerb der Berlinale laufende Film hat als Manifest gegen das Betonzeitalter viele Vorschusslorbeeren erhalten. Der Baustoff ist zu Recht ins Gerede gekommen – wegen seiner miserablen energetischen, Material-, Klima- und CO2-Bilanz. In Kossakovskys Film wird behauptet, nach Wasser sei Beton inzwischen der meistgebrauchte Stoff dieser Erde. Dabei benötigt Beton selbst irrwitzige Mengen an Wasser, um zu entstehen. Mindestens acht Prozent des jährlich von Menschen produzierten CO2-Eintrags in die Atmosphäre entstammen alleine der Produktion und Verwendung von Beton. Das Material ist Teil der Verwüstung unserer Lebensumwelt, zweifellos.
Schnitt: In einem idyllischen norditalienischen Garten steht Architekt und Designer Michele De Lucchi – lang wallender Bart und schwarzer Mantel – in melancholischem Schneeregen. Von zwei Bauarbeitern lässt er ein ungefähr kreisrundes Streifenfundament aus sorgsam bearbeiteten Kalksteinbrocken legen. Geschlossen wird es mit einem perfekt ovalen Stein. Man denkt an jungsteinzeitliche Steinkreise und Labyrinthe. Direkter Sprung aus dieser Intimität in die Monumentalität antiker Ruinen: De Lucchi wandelt um einen gigantischen, noch nicht aus seinem Grund gelösten Kalksteinblock im libanesischen Baalbek, staunt mit dem alten Mann, der diese Ausgrabung sauber hält, wie denn so etwas geschaffen wurde. Etwa 21 Meter lang, bis zu 5,35 Meter hoch und breit – die Angaben stammen aus dem Führer durch das Berliner Pergamonmuseum von 1930, in dem dieser Stein mit einem der (kleineren) Ausstellungssäle verglichen wird. Schon in der Antike war nicht mehr bekannt, wie die anderen vier gigantischen Blöcke dieser Art geschlagen und zum Jupitertempel transportiert worden waren.
Immer wieder stellt Regisseur Kossakovsky die Verehrung von Natur und traditioneller Handwerkskunst, die Brutalität der Betonproduktion aus Kalkstein und eine monumentalisierende Verherrlichung der Antike nebeneinander. Letztere oft in hartem Schwarz-Weiß, als ideale Kunstwelt wie in den hyperästhetischen Fotografien von Herbert List. Für das bessere Verständnis dieser Überhöhung lohnt ein kurzer Blick in die klassizistische Architekturtheorie, etwa auf den auch im Film gezeigten Athena-Tempel in Priene. Dieser besteht nicht nur aus sorgfältig behauenem Kalkstein, sondern war schon in der Antike und ist bis heute das Ideal des ionischen Tempels schlechthin, im Proportionssystem und in den Details bis hin zu Basen und Kapitellen. Solche Säulen finden sich entsprechend auch am Berliner Alten Museum, an der Münchner Glyptothek, am Londoner British Museum und an unzähligen amerikanischen Museumspalästen. Sie erzählen von einer Größe, die Kossakovsky am Ende des Films ausdrücklich auch von der Moderne einfordert. „Warum können wir nicht mehr so bauen?“, fragt er De Lucchi. Und der redet sich raus, dieser Architekt großartiger Betonbauten blickt melancholisch in seinen Garten.
Ganz am Anfang zeigt Kossakovsky von der russischen Armee zerschossene Plattenbauten in der Ukraine. Dann werden Betonkonstruktionen aus Beirut zu einer Müllhalde zusammengeschoben – Bilder zivilisatorischen Versagens. Doch das Gegenbild dazu aus der Antike wären eben nicht die großartigen Tempelruinen, sondern die meist längst zu Lehmhaufen gewordenen Wohnhäuser. Oder die Ruinen jener Kalkstein-Systembauten, aus denen die Stadt Priene einst errichtet wurde. Die aber übersieht Kossakovsky, sie passen nicht in sein Manifest.
Ich sage dem Film großen Erfolg voraus. Und zwar weil er Vorurteile von Linken und Umweltschützern – der Mensch als der Erde Feind – mit Vorurteilen der Rechten verbindet: Die Alten wussten, wie man richtig baut. Wie da riesige Kalksteinblöcke in die Mühle stürzen, nach und nach zerbrochen werden, um hin zum Feuerofen gerollt zu werden … Es ist ein grausamer, mit seiner distanzlosen Verherrlichung einer idealschönen Vergangenheit zutiefst reaktionärer Film. Es ist ein großartiger Film. Übrigens: Die als Balance-Kunstwerke immer wieder gezeigten Steine, die spitz auf rund stehen, sind allesamt eingestürzt.
Text: Nikolaus Bernau
Architecton
Victor Kossakovsky
Dokumentarfilm im Berlinale Wettbewerb
Deutschland/Frankreich/USA 2024
Italienisch/Englisch, OmU Englisch/Deutsch
98 Minuten
Zum Thema:
Der Kinostart für Architecton ist für Herbst 2024 im Filmverleih Neue Visionen geplant.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Frauke | 23.02.2024 12:34 UhrUsura 2.0
"Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein / die Quadern wohlbehauen, fugenrecht, / dass die Stirnfläche sich zum Muster gliedert."
Ohne den Film gesehen zu haben: klingt furchtbar. In Zeiten in denen frau einen rationalen und wissenschaftlichen Ansatz benötigen würde, erfreuen sich simplizistische und reaktionäre pseudo Wahrheiten leider größter Beliebtheit. Erinnert mich daher stark an Kollhoffs Plakette am Walter Benjamin Platz die zurecht entfernt wurde.
Interessant finde ich aber doch, dass sich parallel dazu und ganz unpathetisch eine neue Begeisterung für konstruktive Natursteinbauten im Entstehen zu befinden scheint. Wie das aktuelle französische Beispiel des Wohnbaus auf Baunetz zeigt. Und auch Dezeen zeigt in der Serie Stone Age 2.0 spannende Beispiele. Für mich deutlich interessanter als der besprochene Film.