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30.03.2022

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Lost World

Anonyme Stimme aus Moskau


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Nadine Heinich, die seit 2001 regelmäßig nach Russland reist und enge Kontakte zur Moskauer Kulturszene pflegt, hat aktuelle Stimmen aus Russland und der Ukraine gesammelt. Die folgende stammt von einem bekannten Moskauer Architekturbüro, das aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte.

Heute ist der 22. März, der 26. Tag. Alles wird nun in Bezug auf das gemessen, was man nicht benennen darf. Ich verlasse meine Moskauer Wohnung früh, es ist ein warmer, sonniger Frühlingsmorgen. Heute ist Jurysitzung. Wir wählen die Teilnehmer*innen für das Architects RF-Programm aus. Es wurde vor fünf Jahren vom Strelka Institute ins Leben gerufen. Seitdem hat es jedes Jahr 100 russische Architekt*innen aus dem ganzen Land zusammengebracht, sie mit auf Reisen durch Europa und Asien genommen, ihnen die beste Architektur gezeigt und sie für die Arbeit in den Stadtverwaltungen ausgebildet, um eine Zukunft zu gestalten, die wir uns alle erhofften.

Ich fahre mit schwerem Herzen dorthin. Es ist die letzte Sitzung der Jury. Alles, wofür wir zusammengekommen sind, wurde am 24. Februar irrelevant. Das Gleiche gilt für unsere 20-jährige Tätigkeit in Moskau. Wir haben diese Stadt von ganzem Herzen geliebt. Wie sie geworden ist. Ihre Energie. Ihre kulturellen Institutionen – Garage, GES 2, das Jüdische Museum & Zentrum der Toleranz (die ehemalige Bakhmetevsky Bus-Garage von Konstantin Melnikov aus dem Jahr 1925, die ab 2008 der erste Standort des Museums Garage war). Ihre Parks, Menschen, die nachts am Fluss Moskwa Tango tanzen. Ihren Gartenring mit den neu gepflanzten Baumalleen. Ihre neuen Elektrobusse, blau und leise. Wir können sie nicht mehr lieben.

Unsere Kolleg*innen haben hart gearbeitet, um Moskau zu dem zu machen, was es geworden ist. Nirgendwo haben wir so viele begeisterte junge Menschen gesehen, die sich mit Stadtplanung beschäftigten, neue Regeln für die Stadt aufstellen, testen und für sie kämpfen konnten. Moskau wandelte sich vom sowjetischen Grau hin zu einer farbigen, freundlichen, freien Realität. Am stärksten hat sich das während der Fußball WM 2018 gezeigt. Diese positive, offene, internationale Einstellung blieb auch noch einige Jahre danach erhalten.

Wir sprachen über diesen mitreißenden Wandel, wenn wir an verschiedenen Universitäten in Europa und den USA Vorträge hielten. Eines Tages sagte der Architekturhistoriker Kenneth Frampton, unser absoluter Held, nach einem Vortrag zu uns: „Macht weiter so mit der guten Arbeit in der Gulag-Gesellschaft.“ Wir dachten, er würde es nicht ernst meinen. Er meinte es tatsächlich so.

Wäre mehr Zeit gewesen, wären mindestens zwei Generationen in Freiheit aufgewachsen, vielleicht wäre alles anders gekommen. Wäre, sollte, könnte. Als Kinder der Breschnew-Zeit sind wir Kinder einer doppelbödigen Kultur: Wir sind damit großgeworden, dass Menschen im Privaten das Eine dachten, während sie in der Öffentlichkeit andere Rituale vollzogen. Wenn wir also in den vergangenen Jahren Zeichen anderer Rituale sahen, hielten wir sie nicht für echt. Wir dachten, all die Menschen in ihren Anzügen tun nur so, aber eigentlich sind doch alle auf derselben Seite und teilen dieselben Werte. Bis wir merkten, dass es nicht so ist. Für uns ermöglichten die neu geschaffenen öffentlichen Räume eine neue Einheit, eine Kultur des Zusammenlebens, der Toleranz und Akzeptanz. Andere sahen darin politisches Kapital. Jeder nimmt sich, was er braucht. Bis uns bewusst wurde, dass die eigenen idealistischen Absichten vollkommen gekidnappt wurden.

Du arbeitest, du folgst deiner Mission, du schaust kein Fernsehen. Du tust so, als existiere das alles nicht. Bis man merkt, dass alle anderen in einer anderen Realität, einer parallelen Welt mit einer eigenen Erzählung leben.

In den letzten 20 Jahren haben wir eine Menge geschaffen – schöne Straßen und Plätze, Parks, schicke U-Bahn-Stationen. Wir haben bezahlbarem Wohnraum entworfen, konzipiert als System und als konkretes Produkt – ein Traumjob für jeden Architekten. In dem immer kleiner werdenden Fenster der Freiheit haben wir so lange weitergemacht, wie es möglich war, bis die Dunkelheit uns komplett eingeholt hat. Schönheit hat uns nicht gerettet.

Was sind nun die Optionen, wie kann man nach dem 24. Februar weiterleben? Man kann dieses Land zurücklassen, zusammen mit seinen verlorenen Illusionen. Sich dafür entscheiden, nichts mit diesem Staat zu tun zu haben. Man kann bleiben, schweigen, die Arbeit fortsetzen. Wenn alle gehen, wer und was bleiben dann zurück?

Jeder Designer, Architekt, Künstler kämpft jetzt mit dieser Entscheidung. Jeder findet seine eigenen Antworten. Die Architektur ist ein von Natur aus optimistischer Beruf; sie glaubt an eine bessere Zukunft und an ihre Macht, diese Zukunft zu gestalten. Dieser Glaube ist in Russland für unbestimmte Zeit außer Kraft gesetzt. Der Kern unseres Berufes ist zerstört. Künstler können das Grauen in Kunst verwandeln, Architekten können es nicht in Architektur umsetzen. Doch ohne Hoffnung auf den Wiederaufbau kann man nicht leben, ganz gleich, wie weit diese Zukunft entfernt ist.

Person und Büro sind der Redaktion bekannt, der Text ist im Original in englischer Sprache.


Kommentare
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.

18

Nein | 06.04.2022 19:11 Uhr

Dieser Text

ist einerseits so peinlich in seiner selbstmitleidigen Beschränktheit und gleichzeitig so ungewollt aussagekräftig. Systeme wie Putins entstehen da, wo es Nachlässigkeit, Opportunismus und Scheuklappigkeit gibt umso leichter. Wir dürfen und müssen das sagen, auch in dem Wissen, dass unsere Gesellschaft sich vielleicht ähnlich übertölpeln ließe in ihrer konsumseligen "Freiheit".

17

Lost World | 03.04.2022 21:58 Uhr

Totenstille aus Mariupol

auch ich kann kaum glauben, was ich da lese.
Mich verwundert nicht, dass jemand so einen Text schreibt, sondern dass er hier so veröffentlicht wird.
An vielen Kommentaren kann man gut erkennen, wie hier ein völlig falscher Fokus gesetzt, und die eigentlichen Opfer dieses verbrecherischen Krieges ausgeblendet werden.

16

10407 | 02.04.2022 22:32 Uhr

@50667

Der Verfasser sieht sich doch gar nicht als Opfer. Er stellt nur fest, dass er die letzten Jahren in einer parallelen Welt gelebt hat.

Und stützen oder gestützt haben diesen Machtapperat in den letzten Jahren auch HdM, GMP, OMA u.a. westliche Architekturbüros, große und kleine nationale und internationale Konzerne und am Ende wir alle durch unseren Öl- und Gasverbrauch.

15

50667 | 01.04.2022 10:47 Uhr

@: J


Natürlich ist der anomyme Kollege auch Opfer eines brutalen Unterdrückungssystem.

Er ist aber vorallem ein gutgebildeter Opportunist und Mitglied einer wirtschaftlich gut gestellten Moskauer Großstadtelite, welche diesen repressiven Machtapparat über Jahrzente mit gestützt hat.

Er hatte sich gerade so bequem eingerichtet und jetzt soll das auf einmal alles vorbei sein. Er kann es immer noch nicht glauben !

Noch nicht einmal am am 26. Tag des brutalen Angriffskrieges, welchen Herrn Putin auch in seinem Namen führt, schafft der Kollege den kleinen stillen Protest seine Teilnahme an einer Jurysitzung der Strelka Stiftung des Oligarchen Alexander Mamut (" Der Bankier des Kreml") abzusagen.

Tut mir leid, ich lese in dem Text nur hochpeinliches Selbstmitleid.

Der anomye Kollege hat bis heute nicht begriffen, dass er hauptsächlich Teil des Systems ist und nicht nur unschuldiges Opfer.

14

KuMiKö | 01.04.2022 10:21 Uhr

50667

bitte bedeneken Sie, dass für das benennen der
"Spezialoperation" als das was sie ist - ein Abgriffskrieg gegen eienen Souveränen Staat - in Russland bis zu 15 Jahre Gefängnis drohen. In irgendeinem Loch in Sibirien. Wenn man Glück hat.
Von daher ist es verständlich, dass der oder die Autorin sich hierzu nicht explizit äussern
Wer das Dilemma dieser Generation verstehen will, dem sein die Dkou "Fuck this Job" über den Sender Doschd und seine Gründering in der ARD Mediathek empfohlen.

An den Vervasser:

Danke für die aufrichtigen Worte. Wir wissen, dass es nicht euer Krieg ist.

13

: J | 31.03.2022 22:47 Uhr

@50667 @Lina

Entschuldigung, aber:
Sind diese Vorwürfe nicht anmaßend?

Oder lesen wir inzwischen Texte anders, nehmen nur noch wahr was explizit und doppelt und dreifach formuliert ist?
Das Entsetzen über den brutalen Überfall, das Leid von Millionen von Ukrainern, steht das wirklich n.i.c.h.t. in diesem Text?

Ich finde: Im Gegenteil. Das ist der Hintergrund, vor dem dieser Text überhaupt möglich ist. Selbstverständlich und daher unausgesprochen. Aber deshalb nicht wahrnehmbar, «nicht da»?
Und, auch wenn es nicht vergleichbar ist: Auch hier spricht ein Opfer, jemand der von einem Unrechts-System in Geiselhaft genommen wird/wurde. Niemand von »uns« hat Vergleichbares selbst erlebt.

«Wir» haben das trotzdem schon immer gewusst? Glückwunsch.
»Wir« maßen uns gar an, diese Art Verzweiflung als *Selbstbemitleidung* zu verurteilen?

Mit diesem «Wir», das nur schwarz und weiß kennt, möchte ich jedenfalls nichts zu tun haben.
Danke an BauNetz und Nadin Heinich, dass sie diese Stimme gebracht haben. Hätten sie nicht tun müssen - und genau deshalb um so wichtiger.

12

MMM | 31.03.2022 19:43 Uhr

Kollektive und persönliche Verwantwortung

50667 - Ich kann in diesem Text kein Selbstmitleid erkennen, sondern Selbstkritik. Für mich ist dieser Text wichtig, weil er all das benennt, was in Kanonendonner, im Zählen von Toten und Flüchtlingen untergeht: dass es in Russland Menschen gibt, deren Zukunft in den Sternen steht und die diesen Krieg verabscheuen. Natürlich kann man dies nicht mit dem Leid der Opfer in der Ukraine vergleichen. Aber es ist deshalb nicht weniger wichtig, sich Gedanken zu machen, wie und ob man in einem totalitären Staat als Architekt weiterarbeiten kann - weiterarbeiten will. Diese Gedanken verdienen unseren Respekt und unsere Unterstützung und nicht diesen Reflex, alle und alles kollektiv zu verurteilen. Natürlich gibt es eine kollektive Verantwortung aller Russen für das, was im Moment in der Ukraine passiert - diese ist aber abstrakt. Was wir aus diesem Text lesen können, ist das Nehmen von persönlicher Verantwortung und die Auseinandersetzung damit. Ich habe wenig Texte zur Architektur gelesen in den vergangenen Jahren, die mir so zu denken gegeben haben.

11

50667 | 31.03.2022 14:29 Uhr

Ja alles richtig...


...was die anomyme Stimme aus Moskau schreibt
und doch kann ich kaum glauben was ich da lese.

Dieser vor Selbstbemitleidung triefende Text der Moskauer Kollegen ist vor dem Hintergrund des brutalen und vernichtenden Angriffskrieges gegen die Ukraine nur schwer zu ertragen.

Kein einziges Wort des Schames oder gar der Emphatie für die zehntausendfach niedergemetzelten und millionenfach vertriebenen Menschen in der Ukraine.

Das ist eigentlich fast nicht zu glauben und obendrauf dann noch diese vollkommen unkritischen und belanglosen Kommentare der versammelten deutschen Architektenschaft.

Da kann man wirklich Angst bekommen...

10

Lina | 31.03.2022 10:25 Uhr

Architektur als Rechtfertigung für eigene Kleinseligkeit und Opportunismus?

Menschen in der Ukraine wachen auf und schlafen ein (wenn es überhaupt möglich ist) mit Fliegenalarm!
Jeden Tag, mehrmals am Tag!

3,8 Millionen sind ins Ausland geflüchtet, unter denen 60% aller ukrainischen Kinder!

Mariupol, eine Halbmillionenstadt, wurde durch Russischen Truppen zu 80% zerbombt!

und und und..!

Und es wird hier im Ernst beschwert, dass einem russischen Architekten seine rosafarbige Brillen erst am 24. Februar gefallen sind? Echt jetzt???

Nicht 20 Jahren her, als Putin zur Macht kam, nicht 2008 nach Georgien und 2014 nach Krim???

Und für welches Geld (Blut) habt Ihr alle russische Architekten die 'schöne moderne' Moskau gebaut???

9

g.bathe | 31.03.2022 09:36 Uhr

Putin-Putout


...... bis die Dunkelheit uns komplett eingeholt hat. Schönheit hat uns nicht gerettet.

Danke für den ehrlichen Text und schlimm das Architekten anonym schreiben müssen.

8

Hanna J. | 31.03.2022 08:44 Uhr

Danke für diesen bewegenden Beitrag

Ich wünsche Ihnen Kraft und die Zuversicht,dass Sie mit Ihren Werten nicht alleine da stehen. Bewegung entsteht in den kleinsten Teilchen.

7

peter | 31.03.2022 08:39 Uhr

danke

vielen dank für die veröffentlichung dieses absolut zutreffenden, wahren und traurigen textes.

moskau ist eine tolle, moderne stadt mit einer vielzahl talentierter, weltoffener und moderner europäisch denkender menschen. aber moskau ist nicht russland und russland nicht moskau - in den tiefen des landes leben unzählige menschen in der vergangenheit, in armut und hoffnungslosigkeit. die aktuelle politik russlands ist genauso verzweifelt wie die menschen in der provinz, für die sie in erster linie gemacht wird.

es gibt noch viel zu tun. mögen eines tages die vielen guten entwicklungen, die es im moskau der vergangenen 30 jahre gegeben hat, auf den rest des landes ausstrahlen! der grundstein ist gelegt, und die derzeit regierende clique wird nicht ewig bleiben.

6

a8hv_jh | 30.03.2022 18:56 Uhr

Architekt

Was für ein bewegender und ernüchternder, uns die Augen öffnender Text.
Freiheit, Wahrheit, Frieden
Respekt und Freiheit für Sergei Sitar!

5

Alexandra F. | 30.03.2022 17:34 Uhr

Toller Beitrag!

Vielen Dank!

4

D G | 30.03.2022 16:15 Uhr

DANKE

Was für ein starker Text! Danke!

3

Coalman | 30.03.2022 16:14 Uhr

Schönheit hat uns nicht gerettet

Vielen Dank für diese stichhaltige Veröffentlichung!

2

Morice K | 30.03.2022 15:51 Uhr

Danke...

Für diesen ehrlichen Beitrag!

1

Mир 和平 שלום Peace سلام 平和 Frieden | 30.03.2022 15:48 Uhr

MIR; Peace; Frieden

MIR; Peace; Frieden

 
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Am 24. März 2022, gegen 7 Uhr hingen Aktivisten aus Protest gegen den Krieg und die bedrückende Situation in Russland eine zehn Meter lange Fahne mit der Aufschrift „Freiheit, Wahrheit, Frieden“ von der Krim-Brücke in Moskau. Wegen „Diskreditierung des russischen Militärs“ wurde der Initiator, der 1969 in Moskau geborene Architekt, Publizist und Künstler Sergei Sitar, daraufhin verurteilt. Er ist derzeit in Sakharovo, siebzig Kilometer süd-westlich von Moskau inhaftiert.

Am 24. März 2022, gegen 7 Uhr hingen Aktivisten aus Protest gegen den Krieg und die bedrückende Situation in Russland eine zehn Meter lange Fahne mit der Aufschrift „Freiheit, Wahrheit, Frieden“ von der Krim-Brücke in Moskau. Wegen „Diskreditierung des russischen Militärs“ wurde der Initiator, der 1969 in Moskau geborene Architekt, Publizist und Künstler Sergei Sitar, daraufhin verurteilt. Er ist derzeit in Sakharovo, siebzig Kilometer süd-westlich von Moskau inhaftiert.


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